Ellin
ihre Hand. »Es ist schon gut, weine nur, wenn du musst.«
Ellin schüttelte den Kopf und räusperte sich. »Keine Zeit. Bitte … sagt es ihm nicht, wenn Lord Wolfhard mich mit Gewalt genommen und gefoltert hat. Sagt ihm, ich sei gestorben, bevor es so weit kam.« Sie wischte die Tränen von den Wangen, die aus ihren Augen strömten. »Er soll sich nicht für den Rest seines Lebens mit dieser Vorstellung quälen. Er hat genug erlitten.«
Affra gab einen erstickten Laut von sich, halb Schluchzen, halb Keuchen.
»Versprecht es mir!«, forderte Ellin. »Denn er wird kommen, das ist sicher.«
»Wir versprechen es«, sagte Mathýs. »Doch rede nicht, als wärest du bereits tot. Noch kann sich alles zum Guten wenden.«
Ellin lachte bitter. »Wie denn? Selbst wenn Lord Wolfhard mein Leben verschont, wird es nicht mehr sein wie zuvor. Nichts wird mehr sein, wie es einmal war, wenn er mit mir fertig ist.«
Von draußen erklangen Schritte. Zwei Wachen stürmten mit gezogenen Schwertern in die Kammer, dicht gefolgt von Skavos und der Magd. Schnell schob Mathýs Ellin den Lederbeutel mit den Kugeln in die Tasche. Schon zerrten die Männer sie hoch und schleiften sie zur Tür. »Ihr werdet Eurer gerechten Strafe nicht entgehen«, zischte Skavos an Affra und Mathýs gewandt, bevor er den Wachen folgte. Die Magd feixte.
35
N osaras Leichnam wurde im Palasthof aufgebahrt, damit jeder sich auf seine Weise von ihr verabschieden konnte. Fortas hatte veranlasst, dass sie gewaschen wurde und ihr bestes Gewand trug, denn niemand sollte die Herrscherin als blutige Leiche in Erinnerung behalten. Mit grimmiger Miene achteten die Buschstreiter darauf, dass niemand die Tote schändete, indem er sie mit faulem Obst bewarf oder sie anspuckte. Sie war eine Herrscherin, wenn auch eine gefallene.
Auf den ersten Blick wirkte Fortas zufrieden und erleichtert, doch Kylian merkte, dass er den Tod seiner Schwester betrauerte. Immer wieder verlor sich sein Blick und ein wehmütiger Ausdruck stahl sich in seine Augen. Manchmal senkte er den Kopf, als wäre er zu schwer, um ihn ganz alleine zu tragen und seufzte. Trotzdem gab er ein Festmahl zur Feier seines Sieges und lobte Kylian öffentlich für seine Heldentat. Nach der gewünschten Belohnung gefragt, bat dieser um seine Freiheit. Zwar lehnte Fortas den Wunsch nicht ab, sagte aber auch nicht ja. Er versprach lediglich, die Bitte einer wohlwollenden Prüfung zu unterziehen und ihm eine Antwort nach der Ansprache an das huanacische Volk und die folgende Bestattungszeremonie zu geben.
Kylians Wunsch nach Freiheit wurde umso dringlicher, je länger Ellin verschollen blieb. Niemand wusste, wohin Heiler Ecarius und seine Gehilfin verschwunden waren. Da Fortas ihn häufig in Anspruch nahm, hatte er kaum Zeit, nach ihr zu suchen und so bat er Nuelia und Jesh darum, es an seiner statt zu tun. Am Tag vor Nosaras Bestattung kam ein Wachmann zu ihm und führte ihn zu dem Hügel, auf dem täglich mehrere Gefallene verbrannt und ihre Asche in die Winde verstreut wurden. Nuelia und Jesh erwarteten ihn bereits. Nervös blickte Kylian seine Gefährten an. Er befürchtete das Schlimmste.
»Soldaten haben die Leiche von Heiler Ecaruis gefunden«, sagte Nuelia. »Jemand hat ihn enthauptet.«
»Wo?«, fragte er.
»Auf einer Lichtung im Wald.«
Kylians Glieder wurden taub, sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. »Was ist mit Ellin?«
Nuelia zuckte mit den Schultern. »Von ihr fehlt jede Spur.«
Auf Kylians Geheiß führte der Soldat sie zu der besagten Stelle. Sorgfältig untersuchte Kylian die Spuren, die nur noch schwer zu deuten waren. Er fand Fußspuren von Mensch und Pferd, zählte die Abdrücke, die von schwerem Schuhwerk zeugten, und kam zu dem Schluss, dass es sich nicht um die Spuren Huanacischer Soldaten handelte. Hinter einem Baum fand er schließlich den Beweis: eine verschmutzte Soldatentracht, die achtlos dorthin geworfen worden war, sowie ein zerfetztes, unter Blättern und Zweigen verborgenes Wams mit dem Abbild des Felsgreifers. Nun war er sich sicher: Vecktanische Soldaten hatten Ellin verschleppt. Das Ziel ihrer Reise war unschwer zu erraten genauso wie das, was geschehen würde, sobald sie die Felsenfestung erreichten. Lord Wolfhard würde Ellin foltern, schänden und töten. Panik und der Drang, auf der Stelle die Verfolgung aufzunehmen, überfiel ihn. Nuelia trat hinzu und legte eine Hand auf seine Schulter.
»Sei vernünftig«, sagte sie. »Wenn du jetzt gehst, bist du ein
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