Ellin
sorgen. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich sie beobachte und darauf hoffe, dass sie mir ein Lächeln schenkt, mir zeigt, dass sie mir vergeben hat.«
Nuelia gab einen überraschten Laut von sich. Ellins Herz machte einen Sprung. Kylian hatte Gefühle für sie? Das konnte unmöglich sein! Gerne hätte sie weiter zugehört, doch das Bedürfnis, sich zu erleichtern, wurde so drängend, dass sie es nicht mehr zurückhalten konnte. Hastig tastete sie den Boden ab, zog ihre Beinkleider nach unten und hockte sich hin. Unangenehm laut hallte das Plätschern durch die Nacht.
»Wer ist da?«, rief Nuelia.
Ellin biss sich auf die Lippen und verfluchte die nächtliche Stille und Nuelias gutes Gehör.
»Gebt Euch zu erkennen, oder Euch wird es schlecht ergehen«, drohte sie.
»Ich bin es, Ellin.« Schnell zog sie ihre Beinkleider hoch.
Nuelia trat auf sie zu. »Was tut Ihr hier?«
»Ich musste meine Notdurft verrichten.«
Kylian runzelte die Stirn. »Warum habt Ihr Jesh nicht geweckt? Ihr begebt Euch in Gefahr, wenn ihr alleine im Wald herumschleicht.«
»Ihr habt recht, es tut mir leid, es kommt nicht wieder vor«, erwiderte Ellin, froh darüber, dass die Dunkelheit ihre glühenden Wangen verbarg.
»Ich begleite Euch hinauf.« Nuelia umfasste ihren Arm und führte sie zurück. Ellin ließ es willig geschehen. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken umher wie Stechlinge. Kylian lag etwas an ihr. Die Frage war, lag ihr auch etwas an ihm? Romantische Gefühle waren ihr fremd, zudem war er nicht gerade ein Schmeichler. Im Gegenteil, nicht einmal Mathýs war so mürrisch und wortkarg wie er. Dass sie ihn immer wieder heimlich beobachtete, dass ihr Herz schneller schlug, sobald er in ihrer Nähe war, hatte sie für einen Ausdruck ihrer Angst gehalten. Zumindest am Anfang. Den Wunsch, ihn zu berühren hingegen hatte sie auf die jeweiligen Ereignisse geschoben. Im Grunde war es egal, ob er Gefühle für sie hegte und auch, ob sie diese erwiderte. Sie wollte nicht mit den Uthra umherreisen und von Geldis das Sehen lernen. Sie wollte Sicherheit, ein Dach über dem Kopf und ein Auskommen.
In dieser Nacht lag sie noch lange wach und grübelte, obwohl es im Grunde nichts mehr zu grübeln gab. Ihre Entscheidung stand schon lange fest. Wenn möglich, würde sie in Huanaco bleiben. Der Abschied von den Uthra war ein notwendiges Übel, das sie für den Beginn eines neuen Lebens in Kauf nehmen musste.
14
A m Mittag des folgenden Tages erreichten sie die Ausläufer Huanacos. Die Stadt war in einem Kessel mehrerer flach auslaufender Berge gebaut worden und breitete sich strahlenförmig bis auf die Hügelkuppen aus. Die aus weißem Stein errichteten Häuser waren zumeist einstöckig, mit getrocknetem Farn gedeckt und verfügten über einen ummauerten Innenhof, der mit einer Feuerstelle und manchmal auch mit einem kleinen Garten versehen war. Zwischen den Gebäuden zogen sich unzählige Pfade dahin, die alle Häuser miteinander verbanden. Je weiter sie in das Herz der Stadt vordrangen, umso breiter wurden die Wege und umso größer die Gebäude. Viele waren nun zwei oder drei Stockwerke hoch, auch die Innenhöfe und Gärten wurden prächtiger, waren mit Blumen und Sträuchern bepflanzt und verfügten zum Teil sogar über einen eigenen Brunnen.
Halbnackte Kinder folgten ihnen lachend, während ihre Mütter die Wäsche über Seile hängten oder am Feuer saßen und eine Mahlzeit zubereiteten. Den Mittelpunkt der Stadt bildete eine riesige Arena, die gewaltsam aus dem Herz des Urwalds gerissen worden war. Ein ovaler, mit Sand gefüllter Platz, umrahmt von zahllosen Steinbänken. Unzählige Menschen fanden darin Platz. Für Ellin war es unvorstellbar, dass sich so viele Menschen an einem Ort aufhalten konnten.
Auf den entfernten Hügeln sah sie terrassenförmig angelegte Felder, auf denen alles wuchs, was die Bewohner Huanacos zum Leben brauchten, einschließlich einer Pflanze, die in Geschmack und Gebrauch der Gerstknolle ähnelte, wie Kylian ihr erzählte. Nur dass ihre Frucht von brauner Farbe war und aus mehreren länglichen Kolben bestand, die abgeerntet, gemahlen und zu langen Stangen verarbeitet wurden. Manche Gemüsesorten und Früchte waren Ellin bekannt, andere wiederum hatte sie nie zuvor gesehen.
Beeindruckt von der Größe der Stadt und den unzähligen Menschen darin, starrte sie ungeniert alles und jeden an, der ihren Weg kreuzte. Die Kleider der Frauen ähnelten ihrer ehemaligen Dienstkleidung, waren jedoch so fein
Weitere Kostenlose Bücher