Ellin
Ihr Herz schlug schnell und stolperte immer wieder. Sie atmete tief ein und versuchte, sich zu beruhigen. Ächzend setzte sie sich auf. Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und klebten an ihrer Wange. Mit zitternden Händen stopfte sie die Strähnen in den Zopf zurück, während sie über die Bedeutung der Vision nachdachte, denn um eine solche handelte es sich zweifelsohne. Was hatte Nosara mit Unan und Dau zu tun? Und warum bezichtigten sie die Herrscherin des Verrats?
Sie musste Kylian von der Vision berichten, nur er konnte entscheiden, ob sie Nosara davon in Kenntnis setzen sollten oder nicht. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster. Die Morgenröte tauchte die Berge in rotgoldenes Licht, eine sanfte Brise wehte herein und kühlte ihren erhitzten Leib. Vogelgesang und die leisen Stimmen der Diener und Sklaven, die sich im Morgengrauen erhoben, um ihr Tagwerk zu verrichten, erfüllten die Luft. Sie seufzte. Huanaco war ein wundervoller Ort zum Leben. Nie zu kalt und selten zu heiß. Warmer Regen, fruchtbare Hänge, ausreichend Weiden und unzählige Wildtiere sicherten den Lebensunterhalt der Menschen. Die Grenzen waren gut bewacht und der dichte Wald erschwerte einen feindlichen Übergriff. Hier sollte sie ihre letzten Tage verbringen. Nosara hieß sie sicher willkommen, könnte sie ihr mit ihren Visionen doch von großem Nutzen sein. Doch Geldis spürte, dass etwas unter der glatten Oberfläche schlummerte, ein dunkles Geheimnis. Nosara war nicht die barmherzige Herrscherin, für die sie sich ausgab. Etwas sagte ihr, das sie diesen Ort so schnell wie möglich verlassen sollten. Sie musste Kylian von ihren Bedenken berichten. Huanaco war kein sicherer Ort mehr, war es wahrscheinlich nie gewesen.
Ächzend stemmte sie sich hoch und schlurfte zum Waschtisch. Ihre Gelenke knackten, als sie sich nach dem Nachttopf bückte. Dieser elende, gebrechliche Leib. Es schien, als würde sich das Alter täglich mehr bemerkbar machen. Nicht mehr lange und sie würde vollends auf Hilfe angewiesen sein. Höchste Zeit, eine Nachfolgerin zu finden und sie zu unterweisen, solange sie noch ausreichend Kraft dafür hatte.
Nachdem sie ihre Notdurft verrichtet hatte, fiel ihr Blick in die polierte Vanadiumscheibe. Ihr Herz wurde schwer bei dem Anblick, der sich ihr bot. Zeitlebens war die Vergänglichkeit ein Feind gewesen, den sie nicht zu besiegen vermochte. Einst war sie jung und schön gewesen, mit rotem Haar, straffer Haut und einem Mund voll gesunder, weißer Zähne. Entbrannt in stürmischer Liebe zu einem Mann, der kein Mensch war, war sie ihm blind gefolgt, hatte ihr Leben mit ihm und den Seinen verbracht. Doch nun war sie eine alte Frau, traurig, einsam, gebrochen, dazu gezwungen, den einen, den sie liebte, an eine andere weiterzureichen. Nie hatte er ihr Anlass zur Eifersucht gegeben, selbst als sie älter geworden war und begonnen hatte, sich ihm zu verweigern, hatte er sich keiner anderen zugewandt. Sie wusste, dass er ab und an mit Prasifrauen verkehrte, doch er tat es diskret, nahm immer Rücksicht auf ihre Gefühle. Dabei hatte sie sich schon vor langer Zeit damit abgefunden, ihn eines Tages zu verlieren, hatte sich gewappnet gegen den Schmerz und die Eifersucht. Doch so sehr sie sich auch vorbereitet zu haben glaubte, der Schmerz, der nun in ihrem alten Herzen tobte, war schwer zu ertragen. Sie wusste, dass er eine neue Gefährtin finden musste. Eine, die gut für ihn war und sein bitteres Herz mit Liebe füllte. Eine wie Ellin.
Warum nur wehrte er sich gegen sie? Tat er es noch immer aus Rücksicht vor ihren Gefühlen? Oder glaubte er gar, Nosara für sich gewinnen zu können? So einfach sie andere zu durchschauen vermochte, bei ihm versagten ihre Fähigkeiten, schon immer. Anscheinend machte Liebe tatsächlich blind.
Sie seufzte tief. Der Tod saß ihr im Nacken, wie ein dunkler Fleck auf ihrer Haut, und wartete auf einen Augenblick der Schwäche, auf ein Stolpern ihres Herzens, einen Moment der Unachtsamkeit. Doch so leicht wollte sie sich seinem stetigen Fordern nicht überlassen.
Du musst dich noch ein wenig gedulden, Knochensammler. Trotzig schob sie das Kinn vor, straffte ihren Rücken und rief nach der Dienerin.
16
E in Sonnenstrahl kitzelte Ellins Nase. Sie streckte sich wohlig. Seit vielen Sternenläufen hatte sie nicht mehr so gut geschlafen. Nach dem Baden hatte sie sich sauber und nach Blumen duftend das bereitliegende Gewand übergestreift und war mit Nuelia zum Festmahl geeilt. Die
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