Ellin
Abwechslung vom Alltag, aber immerhin eine Abwechslung. Um die Mittagszeit passierten sie die Ausläufer der Stadt, die aus vereinzelten Hütten bestand, die fast völlig vom Urwald verschlungen wurden, und schlugen den Weg in südliche Richtung ein. Sie reihten sich hintereinander auf und betraten einen Trampelpfad, der sie mitten durch den Wald führte. Für Ellin sah er fast genauso aus, wie der Weg, der sie hierher geführt hatte. Anfänglich machten ihr das Summen und Brummen unzähliger Insekten, das Geschrei der Apinas, der vielstimmige Vogelgesang und das Rascheln, Knacken und Rauschen der Bäume nichts aus, doch im Laufe des Tages empfand sie die Geräuschkulisse als störend und nervenaufreibend. Das endlose Grün und die schlechte Stimmung taten ihr übriges. Kylians ständige Gegenwart zermürbte sie, warf immer neue Fragen auf, die endlos in ihrem Kopf herumkreisten. Was war es, was sie für ihn empfand? Hatte er wirklich bei Yasu gelegen? Und warum sprach er nicht mit ihr? Was verband ihn wirklich mit der Herrscherin? Sie suchte nach Antworten in seinem Gesicht, doch ebenso gut hätte sie einen Stein betrachten können und dabei nicht weniger erfahren.
Am Abend bereiteten sie ihr Lager auf einer der Plattformen, nicht ohne sie zuvor auf Spuren der verschwundenen Händler zu überprüfen. Ellins Muskeln schmerzten von dem langen Ritt auf dem unebenen Boden, doch trotz ihres steifen Ganges bot Kylian ihr nicht die schmerzlindernde Salbe an, die er zweifellos bei sich trug. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie sich auf die Plattform hinauf, bereitete sich ein Nachtlager und legte sich, den Rücken den anderen zugewandt, hin.
Noch vor dem Morgengrauen machten sie sich wieder auf den Weg. Als sie die Ausläufer des Waldes erreichten, hatten sie noch immer keine Spur der Vermissten gefunden. Hoffnungsvoll untersuche Kylian die Quelle am Fuße des Berges, die ein beliebter Ruheplatz für Reisende war, doch auch dort blieb die Suche erfolglos.
Am Nachmittag betraten sie die Ebene von Huan, die der norlanischen Steppe ähnelte. Trockene Büschel, scharfkantige Steine und blattlose Bäume, so weit das Auge reichte. Am Horizont erhoben sich verschwommene Hügel. Sie waren nicht so hoch wie die Huanacischen Berge, doch fast ebenso dicht bewaldet. Dort lag Tihuan, das Heimatdorf der verschwundenen Händler. Kylians Stimmung verdüsterte sich zusehends. Wenn es ihnen bis zum Dorf nicht gelingen würde, eine Spur der Vermissten zu finden oder zumindest etwas über ihren Verbleib in Erfahrung zu bringen, bedeutete das, dass sie zum zweiten Mal an Nosaras Auftrag gescheitert waren. Wie alle Regenten schätzte es die Herrscherin nicht, enttäuscht zu werden und das wiederum könnte den Verlust ihres Lebensunterhalts und ihres Schutzes bedeuten.
Kylian fluchte leise und hob den Arm zum Zeichen, dass sie rasten würden. Sie setzten sich im Kreis um das Feuer herum, aßen ohne Appetit und beratschlagten über die weitere Vorgehensweise. Geldis schlug vor, noch eine Vision heraufzubeschwören, denn ihre Erste am Abend nach dem Aufbruch endete auf dieser Ebene und war wenig aufschlussreich gewesen. Aufgrund ihres geschwächten Zustands schlug Kylian das Angebot jedoch aus. Da sonst niemand eine zündende Idee hatte, beschlossen sie, weiterzureiten.
Kurz, nachdem sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten, trug der Wind einen betörenden Duft heran, der Ellin an den holzigen Geruch der Gerstknollenfelder und an das fruchtig-herbe Aroma von Schwarzbeersaft erinnerte. Sie reckte den Kopf in die Luft und schnupperte. Der Duft weckte Erinnerungen an die glücklichen Tage ihrer Kindheit, als ihre größte Sorge der Frage galt, ob es im Anschluss an das Nachtmahl einen Nachtisch geben würde oder ob ihre Mutter bemerken würde, dass sie ihr Haarband verloren hatte.
Ellin schloss die Augen. Etwas an diesem Duft erfreute ihr Herz, berührte sie und weckte verloren geglaubte Gefühle. Sie sah nach den anderen. Auch Kylian schien von dem Duft angetan, genauso wie Jesh, der einen überaus verzückten Gesichtsausdruck machte, und Nuelia, die glücklich lächelte, wahrend ihr eine Träne aus dem Auge rann. Nur Geldis blickte unbeeindruckt drein.
Unbewusst änderten sie die Richtung, folgten dem Geruch und je näher sie dem Ursprung des lieblichen Duftes kamen, umso intensiver wurde er und umso mehr dürstete es Ellin danach, zur Quelle zu gelangen. Dieser Wohlgeruch war nicht einfach nur ein Duft, es war ein Versprechen, die
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