Ellin
Verheißung von Glück, von immerwährender Liebe und von Freiheit. Zielstrebig folgten sie der unsichtbaren Fährte, als wäre ihr Ursprung das Ziel ihrer Reise. Nur nebenbei bemerkte Ellin die Veränderung des Bodens, der trockener wurde und rissig. Seltsame Blumen erhoben sich aus den Spalten, mit trichterförmigen Kelchen und langen, tentakelgleichen Blättern, die sich in das Erdreich klammerten. Je weiter sie ritten, umso größer wurden sie. Wie Soldaten reihten sie sich in tadelloser Gleichförmigkeit um eine riesige Blume in ihrer Mitte. Ein feines Netz aus wulstigen Rissen bedeckte den Boden. Wie gepflügte Ackerkrumen zogen sich die Spalten über die Ebene, machten ihn porös und rutschig. Immer öfter gerieten die Pferde aus dem Tritt, rutschten auf dem bröselnden Untergrund und bewegten sich nur noch widerwillig voran. Doch niemanden störte das, alle starrten auf die prächtige Blume, die in den Farben des Regenbogens schillerte, und aus deren weit geöffnetem Kelch ein unvorstellbar berauschendes Bouquet an Düften drang.
»Hier riecht es nach Meer und Leder und dem süßen Atem einer Frau«, sagte Kylian verträumt.
»Nein, es riecht nach Wald, feuchter Erde und frisch gepresstem Schwarzbeersaft«, seufzte Jesh.
Ellin konnte nicht sprechen, zu gefangen war sie von den Erinnerungen, die der Duft in ihr erweckte.
Stirnrunzelnd betrachtete Geldis sie. »Was ist denn mit euch los?«
Auch sie erinnerte der Geruch an Verschiedenes, jedoch nicht in der gleichen Intensität wie die anderen. Misstrauisch beäugte sie die Blumen, die mehr Lebewesen als Pflanze zu sein schienen. Das leichte Zucken ihre Blätter, der vibrierende Blütenkelch − sie kannte diese Gewächse. Angestrengt kramte sie in ihrer Erinnerung. Wo hatte sie diese seltsamen Blumen schon einmal gesehen? Eine Bewegung zu ihrer Rechten riss sie aus ihren Gedanken. Ellin glitt von Pineos Rücken und wankte der riesenhaften Blume entgegen. Kylian tat nichts, um sie aufzuhalten, auch nicht, als sie ihn anschubste und auf Ellin deutete.
»Bleib stehen«, rief sie, doch Ellin hörte nicht. Wie eine Schlafwandlerin stolperte sie vorwärts. Geldis schüttelte den Kopf und versuchte, das schwammige Gefühl zu vertreiben, das sich in ihrem Schädel ausgebreitet hatte. Hier stimmte etwas nicht.
»Kylian«, rief sie.
Er reagierte nicht. Mit einem abwesenden Grinsen im Gesicht starrte er auf die Blume. Auch Jesh und Nuelia machten nicht den Eindruck, als würden sie irgendetwas von dem wahrnehmen, was um sie herum geschah.
Ellin stolperte über einen losen Erdbrocken, taumelte ohne innezuhalten weiter. Kurz darauf strauchelte sie erneut und fiel der Länge nach hin. Sie hob den Kopf und blickte sich erstaunt um. Ihr Blick war klar.
Ächzend glitt Geldis vom Rücken des Pferdes und humpelte auf Ellin zu. »Steh auf!«
»Was?«, fragte Ellin verwirrt.
»Das ist ein Talanisfeld und die große Blume hinter dir ist die Königin. Es sind Fleischfresser. Steh auf und komm her! Wir müssen hier weg.«
Ellin machte noch immer ein überaus verwirrtes Gesicht.
»Aber sie duften so gut«, sagte sie versonnen.
Schlingen näherten sich ihren Beinen. Langsam, fast zärtlich wickelten sie sich um ihre Knöchel.
Geldis fluchte, wandte sich ab und hinkte zu Kylian zurück, der mittlerweile ebenfalls vom Rücken seines Pferdes geglitten war und zielstrebig auf die Königsblume zusteuerte.
»Kylian, wach auf«, schrie sie. »Seid ihr denn alle von Sinnen?« Sie schlug ihm hart ins Gesicht. Benommen schüttelte er den Kopf, setzte seinen Weg jedoch unbeirrt fort. Kurz entschlossen riss Geldis ein Stück Stoff aus ihrem Rock, zerteilte dieses in mehrere kleine Fetzen und knüllte sie zu kleinen Kugeln zusammen. Dann zerrte sie an Kylians Arm, bis er endlich stehenblieb, und stopfte ihm die Stoffkugeln in die Nase. »Komm zu dir, sonst sind wir bald alle tot!«
So schnell sie konnte lief sie zu Jesh und Nuelia und verstopfte auch ihre Nasen mit dem Stoff. Kylian blieb stehen und starrte unschlüssig auf die riesige Talanis, während Ellin von den Schlingen über den Boden gezerrt wurde und sich langsam aber unaufhaltsam dem Blütenkelch näherte.
»Kylian«, schrie Geldis. Er reagierte nicht. Kurzentschlossen humpelte sie hinter Ellin her und griff nach ihren Beinen, versuchte, sie aufzuhalten, doch die seildicken Schlingen hatten sich fest um die Beine geschlungen und zerrten sie mit der Kraft eines Ochsen unaufhörlich weiter.
»So helft mir doch«, rief
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