Ellorans Traum
völlig entspannt da, das Doppelkinn auf die Brust gesenkt. Seine Augen waren geschlossen, er schien eingenickt zu sein. Der Becher in seiner Hand neigte sich bedenklich zur Seite, und etwas von dem Wein schwappte heraus. Dann plötzlich öffnete er die Augen wieder, setzte sich entschlossen auf und stellte den Becher mit einem heftigen Knall ab.
»Also, Elloran, du bleibst einstweilen in der Schreibstube. Bei unserer Personalknappheit brauchen wir jede Hilfe, die wir bekommen können, gerade in dieser angespannten Lage. Aber du wirst in den Palas umziehen, ich lasse dir ein Zimmer hier in meiner Nähe zuweisen. Du bekommst angemessene Kleidung und ein gutes Taschengeld zusätzlich zu deinem Schreiberlohn, und deine Mahlzeiten nimmst du künftig mit den andern Höflingen ein. Das ist das mindeste, was ich für Veeloras Enkel tun kann.«
Ich starrte ihn fassungslos an. Was konnte diesen Mann bewogen haben, mir so ohne weiteres Glauben zu schenken? Er stand auf und legte mir seine weiche Hand auf die Schulter. Ich erhob mich verlegen. Er blinzelte mit so etwas wie Rührung in seinen Augen zu mir auf.
»Du siehst deiner Großmutter ein wenig ähnlich«, sagte er wie zur Erklärung. Dann hob er die Hand, um ein Gähnen zu verdecken, und schob mich zur Tür. »Ich möchte, daß wir morgen ein kleines Abendessen zusammen einnehmen.« Er gähnte wieder, daß ihm das Wasser in die Augen schoß. »Ich schicke dir einen Diener, der dich abholt. Bis dahin ist auch dein neues Quartier bereit, bring also deine Sachen mit. Gute Nacht, mein Junge.« Er schloß die Tür hinter mir, und ich stand überrascht in dem dämmrigen Gang. Den Rückweg mußte ich so selbstverständlich wie eine Brieftaube gefunden haben, denn die Gedanken, die durch meinen weinbenebelten Kopf schwirrten, beschäftigten sich mit allem anderen, nur nicht damit, wohin ich meine Füße setzte.
Endlich in meinem Zimmer angelangt, ließ ich mich auf das schmale Bett fallen und atmete tief durch. Mit einer solchen Entwicklung hatte ich im Traum nicht gerechnet. Ich fühlte mich euphorisch und angenehm betrunken. Der Kammerherr erkannte mich als Enkel der Herrin von Kerel Nor an und nahm mich unter seine Fittiche! Was wollte ich eigentlich mehr? Morgen abend würde ich sogar mit ihm speisen. Sicher konnte er mir auch dabei helfen, diese Leonie zu finden, die mir laut Julian meine Sprache wiedergeben würde! Mit lauter angenehmen Gedanken über eine glanzvolle Zukunft bei Hofe schlief ich schließlich ein.
Tief in der Nacht erwachte ich, weil sich jemand in meinem Zimmer befand. Ich hatte nicht bemerkt, daß die Tür sich geöffnet hatte, aber ich spürte deutlich eine fremde Gegenwart in meiner Nähe. Schlaftrunken und erschreckt richtete ich mich auf und erblickte eine weißschimmernde, große Gestalt, die reglos und schweigend am Fußende meines Bettes stand und mich ansah. Als sie sah, daß ich wach war, kam sie näher und trat dabei in das weiche Mondlicht der hoch am Himmel stehenden Großen Schwester, das durch mein kleines Fenster fiel. Ich atmete heftig ein, und griff nach ihr, um mich zu vergewissern, daß sie wirklich in Fleisch und Blut vor mir stand, aber sie wich meiner Hand aus. Ihr rotes Haar leuchtete wie eine Flamme, und ihre Augen waren Pfützen der Nacht in dem bleichen, stillen Gesicht. Verzweifelt versuchte ich, meiner Kehle Worte zu entringen; flehend sah ich sie an. Sie schien ebenso mit Stummheit geschlagen zu sein wie ich. Der Ausdruck ihres Gesichtes war eigenartig leer und unbewohnt. Sie wirkte wie eine Schlafwandlerin oder eine Geisteskranke. Ich schwang die Beine aus dem Bett, fest entschlossen, sie zu berühren. Sie wich an die Wand zurück und hob abwehrend ihre schmalen Hände. Eine in schimmernde Schwärze gekleidete Gestalt trat plötzlich zwischen uns. Sie hüllte die weiße Erscheinung vor mir in fließende Dunkelheit und wandte sich mit ihr zur Tür. »Es ist noch zu früh, Elloran«, flüsterte die schwarze Gestalt tonlos. »Sei geduldig.«
Ich fand mich bei trübem Tageslicht auf meinem Bett wieder: mit pochendem Kopf und vor Trockenheit scheuernden Augenlidern und einem Mund so ausgedörrt wie eine Wasserlache in sommerlicher Mittagsglut. Mit möglichst sparsamen Bewegungen, um mein anscheinend lose durch den Schädel schwappendes Hirn zu schonen, zog ich mich an und wankte in den Speisesaal der Dienerschaft – zum wahrscheinlich letzten Mal, wie mir mit plötzlichem Triumph bewußt wurde. An diesem Morgen begnügte ich
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