Elurius (Vater der Engel) (German Edition)
Adlam.
"Er nennt sich ein Freund unserer Familie", hatte sie Elisa berichtet. "Somit müsste er dir bekannt sein."
Von ihrem Lehnstuhl hatte die Großmutter Tadeya mit hochgezogenen Brauen gemustert. Erst nach einer kleinen Weile der Stille war die Antwort mit verhaltener Stimme aber in unmissverständlich festem Ton gekommen: "Er ist mir bekannt. Meide ihn. Wir wollen keinen Kontakt zu ihm."
Dies war bereits das Ende der Unterhaltung gewesen. Elisa besaß keine besonders gesprächige Natur. Der Mann war wohl Teil irgendeiner alten Geschichte. Und womöglich gab es tausend plausible Erklärungen, warum Tadeya nun hier festsaß. Doch konnte sie nicht einmal eine von ihnen erahnen, weil Elisa all ihre Geheimnisse für sich behielt.
Großmutter und Enkelin waren zwei Fremdlinge an diesem Ort. Doch die beiden bildeten gemeinsam ebenfalls keine Einheit. Tadeya fühlte sich wie losgelöst von jedem anderen Menschen, durch das völlige Fehlen einer Vergangenheit vor ihrer eigenen Existenz. Sie hatte keinen Begriff davon, wer ihre Eltern waren. Sie kannte Vater und Mutter weder aus eigener Erfahrung noch aus irgendwelchen Erzählungen von anderen. Sie wusste, dass es Verwandte gab, und hörte das Munkeln der Leute im Dorf, die Sleyvorns entstammten einer Zigeunersippe. Weitere Informationen waren nicht zu bekommen. Oft neidete Tadeya ihrer Großmutter das Wissen um die Vergangenheit. Doch alles Zürnen half nichts, Elisa schwieg wie ein Grab. Und so blieb Tadeya eine Abgesonderte ohne Verbindung zu den eigenen Wurzeln.
Elisas Haus enthielt zahllose Andenken aus alten Zeiten. Doch bei näherer Betrachtung handelte es sich um eine Ansammlung von Erinnerungsstücken aus dem Leben vieler Fremder. Ob sich darunter irgendetwas befand, das in Elisas eigener Vergangenheit von Bedeutung gewesen war, war nicht festzustellen. Selbst bei den wenigen Porträts an den Wänden handelte es sich um Darstellungen von Personen, die mit den Sleyvorns nicht im geringsten in Verbindung standen. Elisa hatte sie in diversen Antiquitätengeschäften erstanden.
Tadeya horchte auf, als die Holzdecke über ihr unter den Schritten eines Menschen knarrte. Langsam erhob sie sich vom Boden, den Blick fest auf die Zugangstür ihres Gefängnisses gerichtet. Falls er sich nun ein zweites Mal in ihre Nähe wagen sollte, hatte sie fest beschlossen, diesmal schneller zu sein. Denn eines hatte Elisa ihrer Enkelin mit Erfolg beigebracht: wie man sich wirksam zur Wehr setzte.
Tatsächlich hörte Tadeya kurz darauf Geräusche auf der anderen Seite der verschlossenen Tür. Ein Riegel wurde zurückgeschoben. Fixiert auf ihr zu erwartendes Angriffsziel macht sie einen Schritt nach vorn und erhob dabei einem Automatismus folgend den linken Arm.
Die Tür schwang nach innen auf. Tadeya ließ sich nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit, den Mann, der dort stand, ins Auge zu fassen. Dann schleuderte sie ihm mit aller Kraft ihren Fluch entgegen. Die Worte, die dabei über ihre Lippen kamen, entstammten einer Sprache, die ihr selbst fremd war. Elisa hatte ihre Enkelin von klein auf den Gebrauch der magischen Sprüche gelehrt, damit diese so früh wie möglich bereit war, selbstständig jede durch Menschen verursachte Gefahr von sich abzuwenden. Die Worte besaßen einen physisch spürbaren Klang. Sie zerschnitten die Luft wie scharfe Schneiden und konnten die tödliche Wirkung eines schleichenden Giftes oder eines Axthiebes haben. Tadeya hatte sich in diesem Fall für eine ganze Reihe zerschmetternder Axthiebe entschieden. Sie spürte deutlich, wie der heiße Zorn alle nur denkbar verfügbare Energie aus ihrem Körper hinaustrieb.
Doch etwas riss sie von ihren Füßen. Sie wurde wie von einem Katapult nach hinten geschleudert, knallte mit dem Rücken gegen die Wand und fand sich im nächsten Moment am Boden wieder. Noch immer voller Wut wollte sie wieder auf die Beine springen, doch war ihr Körper kurzzeitig wie gelähmt. Sie sah ihren Entführer auf sich zukommen. Es handelte sich um dieselbe kaltblütige, beherrschte Erscheinung wie in den albtraumhaften Augenblicken in ihrem Zimmer. Doch diesmal fiel ihr auf, wie ähnlich seine Züge denen Elisas waren: Die extrem dunklen Augen, die Form des Gesichts und der schmale, aber stabile Körperbau glichen sich bei beiden in auffälliger Weise.
Er war nicht wirklich ein Freund ihrer Familie. Aber es schien Tadeya plötzlich sicher, dass er ein Blutsverwandter war. Der Einzige außer ihrer Großmutter, dem sie jemals
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