E.M. Remarque
mehr her.«
Sie nickte und kaute schon. »Ich muß es langsam essen. Ich habe schon wieder
einen Zahn verloren. Sie fallen einfach aus. Es tut nicht weh. Es sind jetzt
sechs.«
»Wenn es nicht weh tut, macht es nichts. Wir hatten hier jemand, dem der ganze
Kiefer vereitert war. Er stöhnte, bis er starb.«
»Ich werde bald keine Zähne mehr haben.«
»Man kann künstliche einsetzen. Lebenthal hat auch ein Gebiß.«
»Ich will kein Gebiß haben.«
»Warum nicht? Viele Leute haben eins. Es macht wirklich nichts, Ruth.«
»Sie werden mir kein Gebiß geben.«
»Hier nicht. Aber man kann später eins machen lassen. Es gibt wunderbare
Gebisse. Viel besser als das von Lebenthal. Das ist alt. Er hat es schon
zwanzig Jahre. Es gibt jetzt neue, sagt er, die man überhaupt nicht spürt. Sie
sitzen fest und sind schöner als wirkliche Zähne.«
Ruth hatte ihr Stück Brot gegessen. Sie wendete ihre trüben Augen Bucher zu.
»Josef – glaubst du wirklich, daß wir jemals hier herauskommen?«
»Sicher! Ganz sicher! 509 glaubt es auch. Wir alle glauben es jetzt.«
»Und was dann?«
»Dann ...« Bucher hatte noch nicht weit darüber hinausgedacht. »Dann sind wir
frei«, sagte er, ohne es sich ganz vorstellen zu können.
»Wir werden uns wieder verstecken müssen. Sie werden uns wieder jagen. So, wie
sie uns früher gejagt haben.«
»Sie werden uns nicht mehr jagen.«
Sie sah ihn lange an. »Und das glaubst du?«
»Ja.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie werden uns vielleicht eine Zeitlang in Ruhe
lassen. Aber dann werden sie uns wieder jagen. Sie wissen nichts anderes ...«
Die Drossel begann aufs neue zu singen. Es klang klar und sehr süß und
unerträglich.
»Sie werden uns nicht mehr jagen«, sagte Bucher. »Wir werden zusammen sein. Wir
werden aus dem Lager hinausgehen. Man wird den Drahtzaun niederreißen. Wir
werden über den Weg dort gehen. Niemand wird auf uns schießen. Keiner wird uns
zurückholen. Wir werden über die Felder gehen, in ein Haus, wie das weiße Haus
dort drüben, und uns auf Stühle setzen.«
»Stühle ...«
»Ja. Richtige Stühle. Es wird ein Tisch da sein und Teller aus Porzellan und
ein Feuer.«
»Und Leute, die uns hinausjagen.«
»Sie werden uns nicht hinausjagen. Ein Bett wird dasein mit Decken und sauberen
Leinentüchern. Und Brot und Milch und Fleisch.«
Bucher sah, daß ihr Gesicht sich verzerrte. »Du mußt es glauben, Ruth«, sagte
er hilflos.
Sie weinte ohne Tränen. Das Weinen war nur in ihren Augen. Sie verschleierten
sich, und es wallte undeutlich darin auf. »Es ist so schwer zu glauben, Josef.«
»Du mußt es glauben«, wiederholte er. »Lewinsky hat neue Nachrichten gebracht.
Die Amerikaner und Engländer sind schon weit über den Rhein. Sie kommen. Sie
werden uns befreien. Bald.«
Das Abendlicht wechselte plötzlich. Die Sonne hatte den Bergrand erreicht. Die
Stadt fiel in blaues Dunkel. Die Fenster erloschen. Der Fluß wurde still. Alles
wurde still. Auch die Drossel schwieg. Nur der Himmel begann jetzt zu glühen.
Die Wolken wurden zu perlmutternen Schiffen, breite Strahlen trafen sie wie
Winde aus Licht, und sie segelten in das rote Tor des Abends. Voll fiel der
letzte Glanz auf das weiße Haus auf der Anhöhe, und während die übrige Erde
erlosch, schimmerte nur es noch und schien dadurch näher und weiter als je
zuvor.
Sie sahen den Vogel erst, als er dicht heran war. Sie sahen einen kleinen
schwarzen Ball mit Flügeln. Sie sahen ihn vor dem mächtigen Himmel, er flog
hoch und kam dann plötzlich herunter, sie sahen ihn, und sie wollten beide
etwas tun und taten es nicht; einen Augenblick, gerade bevor er sich dem Boden
näherte, war die ganze Silhouette da, der kleine Kopf mit dem gelben Schnabel,
die ausgebreiteten Flügel und die runde Brust mit den Melodien, und dann kam
das leichte Krackeln und der Funke aus dem elektrisch geladenen
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