E.M. Remarque
wissen müssen; es geschah immer wieder, aber man glaubte es jedes
Mal nicht. Er leckte seine Finger, und dann biß er in seine Hand, um sie von
dem Brot in seiner Tasche fortzuhalten. Ich will das Brot nicht sofort
herunterschlingen, wie früher, dachte er. Ich will es erst morgen essen. Ich
habe heute Abend gegen Lebenthal gewonnen. Ich habe ihn halb überzeugt. Er
wollte nicht; aber er hat mir drei Mark gegeben.
Ich bin noch nicht kaputt. Ich habe noch Willen.
Wenn ich es mit dem Brot aushalte bis morgen – es war ihm, als tropfe schwarzer
Regen in seinem Kopf – dann – er ballte die Fäuste und starrte auf die
brennende Kirche – da war es endlich –, dann bin ich kein Tier. Kein Muselmann.
Nicht nur eine Freßmaschine. Ich habe dann, es ist – die Schwäche kam wieder,
die Gier – es ist –, ich habe es zu Lebenthal vorhin gesagt, aber da hatte ich
kein Brot in der Tasche. – Sagen ist leicht – es ist – Widerstand – es ist so,
wie wieder ein Mensch werden – ein Anfang ...
VI
N eubauer saß in seinem
Büro. Ihm gegenüber saß der Stabsarzt Wiese, ein kleiner, affenähnlicher Mann
mit Sommersprossen und einem zerfransten, rötlichen Schnurrbart.
Neubauer war schlecht gelaunt. Er hatte einen dieser Tage, an dem alles schief
zu gehen schien. Die Nachrichten in den Zeitungen waren mehr als vorsichtig
gewesen; Selma hatte zu Hause herumgemurrt; Freya war mit roten Augen durch die
Wohnung geschlichen; zwei Rechtsanwälte hatten ihre Büros in seinem
Geschäftshaus gekündigt – jetzt kam auch noch dieser lausige Pillendreher mit
seinen Wünschen daher.
»Wieviel Leute wollen Sie denn haben?« fragte er mürrisch.
»Sechs genügen einstweilen. Körperlich ziemlich weit herunter.«
Wiese gehörte nicht zum Lager. Er besaß vor der Stadt ein kleines Hospital und
hatte den Ehrgeiz, ein Mann der Wissenschaft zu sein. Er machte, wie manche
andere Ärzte, Experimente an lebenden Menschen, und das Lager hatte ihm
einigemale Gefangene dafür zur Verfügung gestellt. Er war mit dem früheren
Gauleiter der Provinz befreundet gewesen, und niemand hatte deshalb viel
gefragt, wozu er die Leute benutzte.
Die Leichen waren immer ordnungsgemäß später im Krematorium abgeliefert worden;
das hatte genügt.
»Und sie brauchen die Leute für klinische Experimente?« fragte Neubauer.
»Ja. Versuche für die Armee. Geheim, vorläufig, natürlich.«
Wiese lächelte. Die Zähne unter seinem Schnurrbart waren überraschend groß.
»So, geheim ...« Neubauer schnaufte. Er konnte diese überlegenen Akademiker nicht
leiden. Überall mischten sie sich ein und verdrängten mit ihrer Wichtigtuerei
die alten Kämpfer. »Sie können haben, so viele Sie wollen«, sagte er. »Wir sind
froh, wenn die Leute noch zu etwas gut sind. Alles, was wir hier dafür
brauchen, ist ein Überweisungsbefehl.«
Wiese blickte überrascht auf. »Ein Überweisungsbefehl?«
»Gewiß. Ein Überweisungsbefehl von meinem übergeordneten Amt.«
»Aber wieso – ich verstehe das nicht ...«
Neubauer unterdrückte seine Genugtuung. Er hatte Wieses Überraschung erwartet.
»Ich verstehe wirklich nicht ...« sagte der Stabsarzt noch einmal. »Ich habe doch
bis jetzt nie etwas Derartiges gebraucht.«
Neubauer wußte das auch. Wiese hatte es nicht gebraucht, weil er den Gauleiter
gekannt hatte. Aber der Gauleiter war inzwischen wegen einer undurchsichtigen
Angelegenheit ins Feld verschickt worden; das gab Neubauer jetzt eine
willkommene Gelegenheit, dem Stabsarzt Schwierigkeiten zu machen.
»Das Ganze ist eine reine Formsache«, erklärte er leutselig. »Wenn die Armee
die Überweisung für Sie beantragt, bekommen Sie die Leute ohne
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