E.M. Remarque
…
Ravic blickte auf seine Uhr. Es war Zeit, nach Lucienne
Martinet zu sehen. Und danach für das »Osiris«.
Die Huren im »Osiris« warteten schon. Sie wurden zwar
regelmäßig von einem Amtsarzt untersucht; aber der Besitzerin war das nicht
genug. Sie konnte sich nicht leisten, daß sich jemand in ihrem Lokal ansteckte,
deshalb hatte sie mit Veber ein Abkommen getroffen, daß die Mädchen jeden
Donnerstag noch einmal privat untersucht wurden. Ravic vertrat ihn manchmal
dabei.
Die Besitzerin hatte einen Raum im ersten Stock als
Untersuchungszimmer eingerichtet und ausgestattet. Sie war sehr stolz darauf,
daß seit mehr als einem Jahr keiner ihrer Kunden sich in ihrem Etablissement
etwas geholt hatte; dafür aber hatten, trotz aller Vorsicht der Mädchen,
siebzehn Kunden Geschlechtskrankheiten eingeschleppt.
Rolande, die Gouvernante, brachte Ravic eine Flasche
Brandy und ein Glas. »Ich glaube, Marthe hat etwas«, sagte sie.
»Gut. Ich werde sie genau ansehen.«
»Ich habe sie schon gestern nicht mehr arbeiten lassen.
Sie streitet es ab, natürlich. Aber ihre Wäsche ...«
»Gut, Rolande.«
Die Mädchen kamen eine nach der anderen in ihren Hemden
herein. Ravic kannte fast alle; es waren nur zwei Neue dabei.
»Mich brauchen Sie nicht zu untersuchen, Doktor«, sagte
Leonie, eine rothaarige Gascognerin.
»Warum nicht?«
»Keine Kunden, die ganze Woche.«
»Was sagt die Madame dazu?«
»Nichts. Ich habe eine Menge Champagner gemacht. Sieben
Flaschen jeden Abend. Drei Geschäftsleute aus Toulouse. Verheiratet. Wollten
alle drei, aber genierten sich voreinander. Jeder hatte Angst, wenn er mit mir
ginge, würden die andern zu Hause darüber reden. Soffen deshalb; jeder dachte,
er würde allein übrigbleiben.« Leonie lachte und kratzte sich faul. »Der, der
übrigblieb, konnte dann nicht mehr aufstehen.«
»Gut. Ich muß dich trotzdem untersuchen.«
»Meinetwegen. Haben Sie eine Zigarette, Doktor?«
»Ja, hier.«
Ravic machte den Abstrich und färbte ihn ein. Dann schob
er die Glasplatte unter das Mikroskop.
»Wissen Sie, was ich nicht verstehe?« sagte Leonie,
während sie Ravic beobachtete.
»Was?«
»Daß Sie, wenn Sie diese Sachen machen, noch Lust haben,
mit einer Frau zu schlafen.«
»Das verstehe ich auch nicht. Du bist in Ordnung. Wer
kommt jetzt?«
»Marthe.«
Marthe war blaß, schmal und blond. Sie hatte das Gesicht
eines Botticelli-Engels, aber sie sprach den Jargon der Rue Blondel.
»Mir fehlt nichts, Doktor.«
»Das ist gut. Wir werden sehen.«
»Aber mir fehlt wirklich nichts.«
»Um so besser.«
Rolande stand plötzlich im Zimmer. Sie sah Marthe an. Das
Mädchen sagte nichts mehr. Unruhig sah es Ravic an. Er untersuchte sie genau.
»Aber es ist nichts, Doktor. Sie wissen doch, wie
vorsichtig ich bin.«
Ravic erwiderte nichts. Das Mädchen redete weiter –
stockte und begann wieder. Ravic machte einen Abstrich und untersuchte ihn.
»Du bist krank, Marthe«, sagte er.
»Was?« Sie war mit einem Sprung auf. »Das kann nicht
stimmen.«
»Es stimmt.«
Sie sah ihn an. Dann
brach sie plötzlich los – eine Flut von Flüchen und Verwünschungen. »Dieses
Schwein! Dieses gottverdammte Schwein! Ich habe ihm gleich nicht getraut,
diesem glatten Aas! Student wäre er, sagte er, müsse es doch wissen, er wäre ja
Medizinstudent, dieser Lump!«
»Warum hast du nicht aufgepaßt?«
»Ich habe ja aufgepaßt, aber es ging so schnell, und er
sagte, als Student …« Ravic nickte. Die alte Sache – ein Medizinstudent, der
sich einen Tripper geholt und selbst behandelt hatte. Nach zwei Wochen hatte er
sich für gesund gehalten, ohne eine Reaktion zu machen.
»Wie lange wird es dauern, Doktor?«
»Sechs Wochen.« Ravic wußte, daß es länger dauern
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