E.M. Remarque
würde.
»Sechs Wochen?« Sechs Wochen kein Verdienst. Ins
Hospital? »Muß ich ins Hospital?«
»Wir werden sehen. Vielleicht können wir dich später zu
Hause behandeln – wenn du versprichst ...«
»Ich verspreche alles! Nur nicht ins Hospital!«
»Zuerst mußt du hinein. Es geht nicht anders.«
Das Mädchen starrte Ravic an. Das Hospital war bei allen
Huren gefürchtet. Die Aufsicht dort war sehr streng. Aber es war anders
unmöglich. Zu Hause würden sie, trotz aller Versprechungen, nach ein paar Tagen
heimlich ausgehen und sich Männer suchen, um sich etwas zu verdienen, und sie
anstecken.
»Die Madame zahlt die Kosten«, sagte Ravic.
»Aber ich! Ich! Sechs Wochen ohne Verdienst. Und ich habe
mir gerade einen Silberfuchs auf Abzahlung gekauft. Die Rate verfällt dann, und
alles ist weg.«
Sie weinte. »Komm, Marthe«, sagte Rolande.
»Sie nehmen mich nicht wieder! Ich weiß es!« Marthe
schluchzte stärker. »Sie nehmen mich nicht wieder nachher! Sie tun das nie!
Dann muß ich auf die Straße. Und alles wegen diesem glatten Hund ...«
»Wir nehmen dich wieder. Du warst gutes Geschäft. Die
Kunden mögen dich.«
»Wirklich?« Marthe sah auf.
»Natürlich. Und nun komm.«
Marthe ging mit Rolande hinaus. Ravic sah ihr nach. Sie
würde nicht wiederkommen. Madame war viel zu vorsichtig. Ihre nächste Etappe
waren vielleicht noch die billigen Bordelle an der Rue Blondel. Dann die
Straße. Dann Koks, Hospital, Blumen oder Zigarettenhandel. Oder, wenn sie Glück
hatte, ein Louis, der sie prügelte, ausnutzte und sie später ’rausschmiß.
Der Speisesaal des Hôtels International lag unter der
Erde. Die Bewohner nannten ihn deshalb die Katakombe. Er bekam tagsüber etwas
trübes Licht durch einige dicke Milchglasscheiben, die einen Teil des Hofes
bildeten; im Winter mußte er den ganzen Tag erleuchtet werden. Der Raum war
gleichzeitig Rauchzimmer, Schreibzimmer, Halle, Versammlungsraum und die
Rettung der Emigranten, die keine Papiere hatten – sie konnten, wenn die
Polizei kontrollierte, durch ihn zum Hof in eine Garage und von dort auf die
gegenüberliegende Straße entkommen.
Ravic saß mit dem Portier des Nachtklubs Scheherazade,
Boris Morosow, in einer Ecke der Katakombe, die von der Wirtin der Palmenraum
genannt wurde; eine jammervolle Palme in einem Majolikakübel auf einem
dünnbeinigen Tischchen fristete dort ihr Leben. Morosow lebte seit fünfzehn
Jahren in Paris. Er war ein Refugié vom ersten Weltkrieg, einer der wenigen
Russen, die nicht in Garderegimentern gedient haben wollten und die nicht über
ihre adlige Familie sprachen.
Sie spielten Schach. Die Katakombe war leer, bis auf
einen Tisch, an dem einige Leute saßen und tranken und laut redeten und alle
paar Minuten einen Toast ausbrachten.
Morosow sah sich ärgerlich um. »Kannst du mir erklären,
Ravic, warum hier heute abend so ein Radau ist? Warum gehen diese Emigranten
nicht schlafen?«
Ravic lachte. »Diese Emigranten da in der Ecke gehen mich
nichts an. Das ist die faschistische Sektion des Hotels.«
»Spanien? Da warst du doch auch?«
»Ja, aber auf der anderen Seite. Außerdem als Arzt. Das
da sind spanische Monarchisten, faschistisch verbrämt. Der Rest der
Gesellschaft; die anderen sind längst drüben. Diese konnten sich noch nicht ganz
entschließen. Franco war ihnen nicht fein genug. Die Mohren, die die Spanier
schlachteten, haben sie natürlich nicht gestört.«
Morosow stellte seine Figuren auf. »Feiern dann
wahrscheinlich das Massaker von Guernica. Oder den Sieg italienischer und deutscher
Maschinengewehre über Bergarbeiter und Bauern. Habe die Brüder noch nie hier
gesehen.«
»Sie sind seit Jahren hier. Du siehst sie nicht, weil du
nie hier ißt.«
»Ißt du
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