Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
als man ihn bei Tische vergessen hatte, ein Herz faßte und um ein wenig Salz bat. Man hätte ihn freilich deswegen doch schelten können, weil er direct zwar nur Salz, indirect aber damit gleichzeitig Fleisch gefordert hatte. Doch will ich dagegen nichts einwenden, denn in jenem Uebersehen lag etwas so Grausames, daß ich mir die Möglichkeit seiner Bestrafung selbst in dem Falle nicht denken kann, wenn er das Gebot geradezu übertreten und ohneUmschweife gesagt hätte, daß ihn hungere. Ich will hier nur die List mittheilen, welche ein kleines Mädchen von sechs Jahren in meiner Gegenwart in einem ungleich schwierigeren Falle anwendete; denn nicht allein war auch diesem auf das Strengste untersagt worden, weder mittelbar noch unmittelbar irgend etwas zu fordern, sondern sein Ungehorsam wäre hier auch in so fern unverzeihlich gewesen, als das Kind, mit Ausnahme eines einzigen Gerichtes, bereits von allen übrigen gegessen hatte. Von diesem hatte man ihm vorzulegen vergessen, aber gerade nach ihm trug es besonderes Verlangen.
    Um nun auf diesen Act der Vergeßlichkeit aufmerksam zu machen, ohne gerade ungehorsam zu erscheinen, ließ es mit erhobenem Finger seine Blicke über alle Gerichte schweifen und sagte, indem es auf jedes einzelne hinwies, dabei ganz laut: »Hiervon habe ich gegessen, hiervon habe ich gegessen!« Als es aber an das Gericht gelangte, von dem man ihm vorzulegen vergessen hatte, überschlug es dasselbe mit so auffälligem Stillschweigen, daß es Jemand bemerkte und fragte: »Hast du denn von diesem Gerichte nicht auch gegessen?« »Ach nein,« versetzte leise das kleine Leckermäulchen mit niedergeschlagenen Augen. Ich brauche wol nichts weiter hinzuzufügen. Man vergleiche nur die List des Mädchens mit der des Knaben.
    Alles, was ist, ist gut, und kein allgemeines Gesetz ist schlecht. Die dem Weibe verliehene eigenthümliche List ist nur ein völlig billiger Ersatz für seine geringere Stärke. Ohne sie würde die Frau nicht als Gefährtin des Mannes auftreten können, sondern zu seiner Sklavin herabsinken. Durch diese Ueberlegenheit des Talentes erhält sie ihre Ebenbürtigkeit aufrecht und beherrscht den Mann, trotzdem sie ihm gehorcht. Die Frau hat Alles gegen sich: unsere Fehler, ihre Schüchternheit und ihre Schwäche; die Waffen, welche sie für sich ins Feld führen kann, sind allein ihre List und ihre Schönheit. Ist es deshalb nicht billig, daß sie beide ausbildet? Allein die Schönheit ist nicht jeder Frau verliehen, auch leidet sie unter tausend Zufälligkeiten, verwelkt mit den Jahren, und selbst die Gewohnheit verringert ihren Reiz. Im Geist allein liegt die Hauptstärkedes schönen Geschlechts, freilich nicht in jenem oberflächlichen Geiste, auf den die Welt so großen Werth legt und der zur Begründung eines wahren Lebensglücks doch völlig werthlos ist, sondern in der den Frauen eigentümlichen geistigen Befähigung, sich unsern Geist dienstbar zu machen und somit aus unseren eigenen Vorzügen Vortheil zu ziehen. Man glaubt kaum, wie nützlich diese Kunst uns selbst ist, in wie hohem Grade sie den Reiz des persönlichen Umgangs beider Geschlechter unter einander erhöht, wie ersprießlich sie ist, den Muthwillen der Kinder zurückzuhalten und rauhe Ehemänner zu besänftigen, und wie viel sie zum Gedeihen der Haushaltung beiträgt, welche sonst durch Zwietracht so leicht gestört werden würde. Ränkevolle und böse Weiber machen zwar, wie mir recht wohl bewußt ist, einen schlechten Gebrauch davon, aber womit triebe das Laster nicht Mißbrauch? Man darf die Mittel zur Glückseligkeit nicht zerstören, weil sich einige Böse derselben hin und wieder zu unserem Nachtheile bedienen.
    Man kann durch Putz glänzen, gefallen kann man aber nur durch seine Person. Der Anzug ist nicht der Mensch selbst; oft entstellt er den, welcher zu große Sorgfalt auf ihn verwendet, und wer ihn recht bemerkbar machen will, findet oft selbst am wenigsten Beachtung. Die Erziehung der jungen Mädchen befindet sich in diesem Punkte auf einem schlimmen Abwege. Man verspricht ihnen Putz als Belohnung und impft ihnen auf diese Weise Gefallen an einem auffallenden Putze ein. »Wie schön sie ist!« ruft man wol aus, wenn sie recht aufgeputzt einhergehen. Man sollte den Mädchen im Gegentheile die Ueberzeugung beibringen, daß so viel Putz nur Fehler bedecken solle, und daß die Schönheit ihren Haupttriumph darin suche, nur durch sich selbst zu glänzen. Die Modesucht ist ein Zeichen schlechten

Weitere Kostenlose Bücher