Emil oder Ueber die Erziehung
von der Liebe, ohne irgend etwas als Pflicht zu verlangen; in der geringsten Gunstbezeugung erkenne nie ein Recht, sondern eine Gefälligkeit. Ich weiß, daß die Schamhaftigkeit klar ausgesprochene Geständnisse scheut und besiegt sein will. Kann sich aber wol der Liebende, wenn er Zartgefühl und wahre Liebe besitzt, über den geheimen Willen täuschen? Wird er sich dessen nicht klar, wenn ihm Herz und Augen zugestehen, was der Mund scheinbar versagt? Möge stets Jedes von euch Beiden Herr seiner Person und seiner Liebkosungen sein und das Recht haben, sie nur nach eigenem Willen dem Andern zu gewähren. Bleibt beständig eingedenk, daß selbst in der Ehe der Genuß nur dann ein rechtmäßiger ist, wenn beide Theile ein gleiches Verlangen danach tragen. Ihr braucht nicht zu befürchten, meine Kinder, daß dies Gesetz euch von einander fern halten werde; es wird euch im Gegentheile aufmerksamer darauf machen, daß ihr beflissen sein müßt, euch gegenseitig zu gefallen, und wird die Uebersättigung verhüten. Ausschließlich auf einander beschränkt, wird die Natur und die Liebe euch hinlänglich einander näher bringen.«
Bei diesen und ähnlichen Andeutungen und Vorschlägen wird Emil unwillig und erhebt dagegen laut Widerspruch. Sophie hält sich verschämt den Fächer vor die Äugen und erwidert kein Wort. Der Unzufriedenste von Beiden ist jedoch vielleicht nicht derjenige, der sich am meisten beklagt. Ich lasse mich aber durch nichts irre machen und bleibe unerbittlich. Ich treibe Emil über seinen Mangelan Zartgefühl die Schamröthe ins Gesicht und leiste Bürgschaft dafür, daß Sophie ihrerseits den Vertrag annehmen wird. Ich fordere sie auf, sich darüber auszusprechen, und man wird sich wol denken können, daß sie mich nicht Lügen zu strafen wagt. Unruhig befragt Emil die Augen seiner jungen Gattin. Trotz ihrer Verlegenheit liest er in ihnen Sehnsucht und Verlangen, was ihn über die Gefahr, die ihm von ihrem Selbstvertrauen drohen könnte, wieder beruhigt. Er wirft sich ihr zu Füßen, küßt leidenschaftlich die Hand, welche sie ihm reicht, und schwört, daß er mit Ausnahme der ihm zugelobten Treue auf jedes andere Recht verzichtet. »Sei du, theure Gattin,« sagt er, »die Herrin meiner Freuden, wie du die Herrin meines Lebens und meines Schicksals bist. Selbst auf die Gefahr hin, daß mir deine Grausamkeit das Leben kosten könnte, gebe ich dir meine theuersten Rechte zurück. Ich will nichts deiner bloßen Willfährigkeit, sondern Alles deinem Herzen zu verdanken haben.«
Guter Emil, beruhige dich. Sophie ist selbst viel zu edelmüthig, als daß sie dich als Opfer deines Edelmuths sterben lassen könnte. Als ich am Abend im Begriff stehe, von ihnen Abschied zu nehmen, sage ich im ernstesten Tone, den ich anzunehmen vermag, zu ihnen: »Erinnert euch Beide, daß ihr frei seid, und daß bei euch von ehelichen Pflichten die Rede nicht sein kann. Glaubt mir, und laßt euch nicht durch falsche Rücksichten beirren. Emil, willst du mit mir kommen? Sophie erlaubt es.« Emil hätte in seiner Wuth Lust, sich thätlich an mir zu vergreifen. »Und du, Sophie, was sagst du dazu? Soll ich ihn mitnehmen?« Die Lügnerin wird erröthend »ja« sagen. Reizende und süße Lüge, die einen höheren Werth als die Wahrheit hat!
Am nächsten Tage …. Das Bild des Glücks gewährt den Menschen keine Freude mehr; unter den verderblichen Folgen des Lasters hat ihr Geschmack nicht weniger gelitten als ihr Herz. Es fehlt ihnen an Empfindung für das Rührende und an Augen für das Liebliche. Ihr, die ihr, um die höchste Seligkeit zu malen, eure Vorstellung immer nur bei glücklichen Liebenden weilen laßt,die in den größten Sinnengenüssen schwelgen, wie unvollkommen ist doch euer Gemälde! Es zeigt nur, was die Sinne zu berauschen vermag, aber die süßesten Reize der Freude sind auf demselben nicht zu finden. O, wer von euch hätte noch nie zwei Neuvermählte, die sich unter den glücklichsten Verhältnissen die Hand zum Bunde reichten, aus der Brautkammer hervortreten sehen, hätte noch nie gesehen, wie aus ihren schmachtenden und keuschen Blicken der Rausch der eben genossenen Freuden und zugleich die liebliche Sicherheit der Unschuld so wie die so entzückende Gewißheit hervorleuchteten, nun ihre übrigen Lebenstage mit einander verleben zu können! Es ist der bezauberndste Anblick, der dem Menschen dargeboten werden kann; es ist das wahre Gemälde der Freude. Ihr habt es hundertmal gesehen, ohne es zu
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