Emmas Geheimnis: Roman (German Edition)
man hatte sie holen müssen, und wie sich später dank einer Krank enschwester, die ihr Gewissen beruhigen musste, herau sstellte, hatte der Arzt, ein Gewohnheitstrinker, wohl einiges während der Geburt verpfuscht. Mein Onkel hatte es an Sophies erstem Geburtstag erfahren, kurz vor meiner Geburt. Damals war er dreiundzwanzig gewesen. Jung, hitzig und voller Liebe für die beiden Frauen in seinem Leben. Gleichzeitig auch voller Angst davor, was dieser Arzt noch alles anrichten könnte. Wenn beispielsweise seine geliebte Schwester Hannah, meine Mutter, ausgerechnet bei ihm entbinden würde. Ralph fuhr, damals noch mit dem Bus, zum Krankenhaus, wartete in der winterlichen Kälte, bis der Arzt Feierabend hatte und zu seinem Auto ging, versetzte ihm einen kräftigen rechten Haken und stiefelte anschließend zur nächsten Polizeistation, um sich selbst anzuzeigen. Vorher aber hatte er noch bei der Zeitung angerufen, damit auch ja jeder von der Sache erfuhr. Der Arzt versuchte, die Sache finanziell zu regeln, um noch größeres Aufsehen zu vermeiden, aber das ließ Ralph nicht zu. Bei nächster Gelegenheit ging er auch damit an die Presse. Letzten Endes verlor der Arzt seinen Job, und Ralph wurde verwarnt.
Kein Wunder also, dass Mary größte Sympathien hegte für Emma und ihren rechten Haken, der in Sams Gesicht gelandet war. Kein Wunder aber auch, dass Ralph und Mary eine so enge Bindung hatten. Das Erlebte hatte sie zusammengeschweißt, offensichtlich für die Ewigkeit.
Es erfüllte mich, die beiden so zu sehen, und gleichzeitig löste es in mir Wehmut aus. Ich dachte an Brian und wie es mit ihm hätte sein können. Was wir noch alles im Leben hätten machen können.
Ich starrte an die Wand, die Gedanken überschlugen sich. Wie lange hätte Brian wohl gebraucht, einen neuen Job zu finden? Und was für ein Job wäre das gewesen? Hätte er genauso gut verdient wie zuvor? Wohl kaum. Hätten wir bessere Chancen gehabt, wenn wir aus Cork weggezogen wären? Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich keine Ahnung hatte, womit Brian glücklich gewesen wäre. Ich wusste nicht einmal, was mich glücklich gemacht hätte. Ich verstand, dass uns ein Ziel gefehlt hatte: Brian wusste nach der Agenturpleite nicht mehr, was er beruflich eigentlich wollte, außer endlich wieder Geld zu verdienen. Und ich war zwar froh über meine Stelle an der Uni, aber ich k onnte nicht behaupten, dass sie mich wirklich auf Dau er erfüllte. Anfangs hatte ich gedacht, sie sei eine Zwischenstation, eine Sicherheitsmaßnahme, und mit einem Mal hatte ich mich daran gewöhnt, und die Jahre waren verstrichen. Nein, Glück sah anders aus. Allerdings hatte ich auch keine Ahnung, was mich glücklich gemacht hätte …
Ich erschrak vor diesem Gedanken. Und schließlich sah ich mich dem Gespenst gegenüber, dem ich die ga nze Zeit über ausgewichen war. Dem Gespenst Wahrheit.
Die Wahrheit war, dass wir in den letzten Monaten unserer Ehe nicht mehr glücklich gewesen waren.
13.
Es war der Tag vor Brians Tod. Ein nasskalter Novembertag, an dem dichter Nebel die Stadt lahmlegte. Alle Geräusche schienen gedämpft, alles Leben ruhte, wartete darauf, dass das Licht zurückkam und mit dem Licht vielleicht auch etwas Wärme. Ich kroch widerwillig aus dem Bett und warf mir sofort eine Strickjacke über, weil die Wohnung ausgekühlt war. Wir versuchten, Heizkosten zu sparen, und noch war der Punkt nicht erreicht, an dem es mir egal gewesen wäre, wie viel Geld mich eine warme Wohnung kostete, weil ich kurz davor war, an Unterkühlung zu sterben. Ich warf einen Blick auf Brian, der mit Schal und Mütze schlafen gegangen war. Ich sah fast nichts von ihm, weil er sich unter den Decken vergraben hatte. Wann er gestern ins Bett gekommen war, wusste ich nicht. Er hatte am Computer gesessen und war seine Bewerbungsunterlagen durchgegangen.
»Komm mit ins Bett«, hatte ich gesagt.
»Ich brauch noch ne Weile.«
»Deine Unterlagen sind völlig in Ordnung. Du hast tolle Zeugnisse, und die Projekte deiner Agentur sprechen für sich. Was willst du denn noch mehr? Willst du was erfinden?«
»Ich versuche rauszufinden, warum mich niemand will. Vielleicht sollte ich die Reihenfolge der Projekte ändern. Sie anders präsentieren. Oder etwas ist mit meinem Lebenslauf.«
»Brian«, sagte ich ungeduldig. »Du wirst doch immer wieder eingeladen.«
»Ja, und dann nehmen sie mich nicht. Es muss an der Präsentation liegen. Daran muss ich arbeiten. Und
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