Empfindliche Wahrheit (German Edition)
für ein »kleines Privatessen unter Kommilitonen«, wie Stephanie es formuliert. Mit anderen Worten: Tobys Anwesenheit wird nicht vonnöten sein.
Toby verbringt den Vormittag damit, seinen Bericht über die Tagung aufzusetzen, und am Nachmittag macht er einen Spaziergang über die Hügel von Prag. Abends schlendert er an der Moldau entlang, wie immer hingerissen von der Schönheit der Stadt, wandert durch die kopfsteingepflasterten Gässchen und lässt sich ein einsames Nachtmahl schmecken. Den Rückweg zur Botschaft nimmt er noch einmal über die Burg und bemerkt, dass in dem Tagungsraum im ersten Stock Licht brennt.
Von der Straße aus ist seine Sicht eingeschränkt, und die Fenster sind bis auf halbe Höhe aus Milchglas. Wenn er allerdings ein Stück den Hang hinaufsteigt und sich auf die Zehenspitzen stellt, kann er hinter dem Stehpult auf dem Podium die Silhouette eines Redners ausmachen, der sich in einer stummen Ansprache ergeht. Er ist mittelgroß. Er hält sich sehr gerade, beschränkt den Kiefereinsatz aufs Nötigste; seine ganze Art – Toby kann nicht recht sagen, warum – scheint ihm unverkennbar britisch, vielleicht weil die Handbewegungen beim Reden, wiewohl energisch, von dieser ganz eigenen Verhaltenheit sind. Und noch etwas steht für Toby fest: Er spricht Englisch.
Hat er die Verbindung hergestellt? Noch nicht. Nicht ganz. Sein Blick ist damit beschäftigt, die Reihe der Zuhörer abzuwandern. Wohl ein Dutzend sitzen in einem informellen Halbkreis um den Redner. Nur ihre Köpfe sind sichtbar, aber Tony erkennt auf Anhieb sechs von ihnen. Vier gehören den stellvertretenden Leitern des ungarischen, bulgarischen, rumänischen und tschechischen Militärgeheimdiensts, die Toby vor sechs Stunden allesamt ihre unverbrüchliche Freundschaft beteuert haben, um sich dann im Hubschrauber oder Dienstwagen auf die Heimreise zu begeben.
Die beiden anderen Köpfe, die eng beisammen sind, in einem Abstand zum Rest der Gruppe, gehören der Botschafterin Ihrer Majestät in der Tschechischen Republik und ihrem alten Harvard-Kumpel Fergus. Auf einem Tisch hinter ihnen sind die Überreste eines fürstlichen Buffet zu sehen, das offenbar das kleine Privatessen unter Kommilitonen ersetzt hat.
Ganze fünf Minuten – vielleicht auch länger – steht Toby am Hang, ohne einen Blick für den spätabendlichen Verkehr, der an ihm vorbeirauscht, und starrt hinauf zu den erleuchteten Fenstern und der Gestalt hinter dem Stehpult: einer schlanken, aufrechten Gestalt im gutsitzenden dunklen Anzug, die mit knappen, emphatischen Gesten ihre zündende Botschaft unterstreicht.
Aber worin besteht das Evangelium dieses geheimnisvollen Predigers?
Und warum wird es hier verkündet und nicht in der Botschaft?
Und warum stößt es auf so augenfällige Zustimmung beim Herrn Minister und bei der Frau Botschafterin?
Aber vor allen Dingen: Wer ist Quinns geheimer Teilhaber, erst in Brüssel und jetzt in Prag?
***
Berlin.
Quinn hat ein paar Unverbindlichkeiten aus Tobys Feder von sich gegeben – Titel: »Der dritte Weg: Soziale Gerechtigkeit und ihre Zukunft in Europa«; nun speist er im Hotel Adlon mit unbenannten Privatgästen. Toby hat somit Feierabend und plaudert im Garten des Café Einstein mit seinen alten Freunden Horst und Monika, die ihre vierjährige Tochter Ella dabeihaben.
In den fünf Jahren ihrer Bekanntschaft ist Horst im deutschen diplomatischen Dienst zügig aufgestiegen und bekleidet nun einen Posten nicht unähnlich dem von Toby. Monika knapst von ihren Mutterpflichten drei Tage die Woche ab, um für eine Menschenrechtsgruppe zu arbeiten, vor der Toby größte Hochachtung hat. Die Abendsonne ist warm, die Berliner Luft kalt. Horst und Monika sprechen die Art Norddeutsch, mit der sich Toby am heimischsten fühlt.
»Tja, Toby …« Horst klingt nicht ganz so beiläufig, wie er gern möchte. »Dein Quinn hört sich ja fast nach einem umgekehrten Karl Marx an. Wer braucht den Staat, wenn die Privatunternehmen die Arbeit für uns erledigen? Unter eurem neuen britischen Sozialismus sind wir Beamten überflüssig, du und ich.«
Toby weiß nicht recht, worauf Horst hinauswill, also weicht er aus:
»Das hab ich aber so nicht in seine Rede geschrieben«, sagt er lachend.
»Aber hinter verschlossener Tür ist das seine Botschaft an uns, oder vielleicht nicht?«, beharrt Horst mit gesenkter Stimme. »Nur ganz unter uns, Toby, im Vertrauen: Bist du auch für Quinns Vorschlag? Eine Meinung wird dir ja wohl erlaubt
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