Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
sich noch immer als Weltmeister. Seiner Ansicht nach war er sogar schon vor 1972 legitimer Weltmeister, nur hätten die Russen ihm den Titel durch ihre Mauscheleien jahrelang vorenthalten.
Die Presse nannte die zwei Dekaden nach Reykjavik Bobbys »Jahre der Wildnis«. Ein passender Ausdruck: 20 Jahre lang lebte Bobby allein, meist in den übelsten Gegenden von Los Angeles, fast mittellos und oft an der Grenze zur Obdachlosigkeit. Er machte sich so unsichtbar wie möglich, weil er sich weiter bedroht fühlte.
Geld hätte er durchaus verdienen können, wenn er denn zugegriffen hätte. Aber er machte es allen unerhört schwierig, selbst denjenigen, die ihm Geld schenken wollten. Zuerst musste man ihn finden – keine einfache Aufgabe, weil er ständig umzog, praktisch niemandem seine Telefonnummer verriet und keinen Anrufbeantworter benutzte. Am Briefkasten einer seiner Wohnungen stand nur der Deckname »R. D. James«. Zweitens nahm Bobby, wenn man ihn denn aufgespürt hatte, nie das erste Angebot an, sondern verlangte sofort das Doppelte, Dreifache, Vielfache – woraufhin die meisten Interessenten absprangen. Drittens weigerte er sich, irgendwelche Verträge zu unterschreiben, doch ohne gesetzlich bindende Vereinbarung mochten weder Privatleute noch Firmen mit ihm zusammenarbeiten. Es geht das Gerücht, wenn er völlig pleite war, habe er für 2500 Dollar kurz mit Schachspielern telefoniert und für 10 000 Dollar telefonisch Schachunterricht erteilt. Der Autor fand keine Bestätigung für dieses Gerücht. Es bleibt unklar, wie diese Anrufe arrangiert wurden, wie lange sie dauerten und wer sie tätigte – wenn es sie denn je gegeben hat.
Dabei hätte Bobby Verdienstmöglichkeiten gehabt: Die Canadian Broadcasting Company wollte ihn für einen Dokumentarfilm interviewen. Bobby verlangte jedoch 5000 Dollar allein für eine telefonische Vorbesprechung, ohne Garantie für eine Zusage. Daraufhin winkte der Sender ab. Ein Reporter von Newsday , einer der größten amerikanischen Boulevardzeitungen, bemühte sich um ein Interview mit Bobby. Claudia Mokarow beschied ihm: »Gehen Sie zu Ihrem Verlagschef und besorgen Sie eine Million Dollar, dann reden wir weiter.« Carol J. Williams, Reporterin bei der Los Angeles Times , fragte ebenfalls um ein Interview an. Bobby verlangte 200 000 Dollar, der Verlag lehnte »aus Prinzip« ab. Freischaffende Fotografen boten jedem 5000 Dollar, der ihnen Bobbys Aufenthaltsort verriet, wenn sie nur ein einziges Foto schießen könnten – Bobby hätte für ein Foto mit seiner Einwilligung also sicher 10 000 Dollar verlangen können. Doch kein Foto wurde je gemacht. Edward Fox, freier Mitarbeiter der britischen Zeitung Independent , schrieb über Bobby: »Die Jahre vergingen, und die letzten existierenden Bilder von ihm veralteten immer mehr. Inzwischen wusste niemand mehr, wie Bobby Fischer aussah. In dieses Vakuum der Abwesenheit sog es einen Nebel von Gerüchten und Informationsbrocken. Fischer existierte als Strudel von wiedergekäuten Fakten und Zitaten aus zweiter Hand. Gelegentlich meldete man die ›Sichtung‹ einer elenden, bärtigen Gestalt.«
Anfang der 1990er Jahre versuchte die Redaktion der sensationalistischen Fernsehsendung Now It Can Be Told (»Jetzt kann es erzählt werden«) wochenlang, den einsiedlerischen Bobby vor die Linse zu bekommen. Schließlich gelang dem Kamerateam tatsächlich eine Aufnahme von wenigen Sekunden. Sie zeigt Bobby, wie er aus einem Auto steigt.
Bobby Fischer! Seit zwei Jahrzehnten die ersten Bilder! Seine Hose, sein Jackett waren zwar zerknittert, doch er sah nicht so heruntergekommen aus, wie einige Presseberichte unterstellt hatten. Und es handelte sich bei diesem breitschultrigen, selbstbewusst schreitenden Menschen unverkennbar um Bobby Fischer – auch wenn sein Haar sich lichtete, sein Bauchumfang zugenommen hatte und sein Gesicht hinter einem Bart versteckt war.
12. Kapitel Fischer-Spasski Redux
B obbys Schachdrache war in seiner Höhle nicht nur erwacht, er schlug heftig mit dem Schwanz. Bobby wollte unbedingt wieder spielen – und sei es nur, um seinem erbärmlichen Leben zu entkommen, selbst mal ein paar Dollar zu verdienen und nicht mehr vom Geld seiner Mutter abhängig zu sein. Doch es ging ihm nicht ausschließlich ums Geld. Er vermisste auch die Spannung des Wettkampfs, das Spiel selbst, die Verehrung des Publikums, die Stille (hoffentlich) im Turniersaal, das Wispern der (verdammten) Kiebitze, das Schach leben . Jonathan
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