Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
vertragen als der durchschnittliche menschliche Körper.«
»Aber die Entfernung...«, begann ich. T’ai Shan lag mehr als hundert Kilometer östlich, und selbst wenn wir die Strahlströmung erreichten, bedeutete das mehr als eine Stunde in dünner Luft... viel zu dünn zum Atmen.
A. Bettik zurrte die letzten Seile an seinem Paragleiter fest – ein hübsches Ding mit einem großen blauen Deltasegel und einer Spannweite von fast zehn Metern – und sagte: »Wenn wir das Glück haben, die Distanz zu überwinden, werde ich es überleben.«
Ich nickte und traf Anstalten, in die Seile meines eigenen Paragleiters zu schlüpfen, stellte keine Fragen mehr, sah Aenea nicht mehr an und fragte sie nicht, warum wir vier auf diese Weise unser Leben riskierten, als meine Freundin plötzlich neben mir stand.
»Danke, Raul«, sagte sie so laut, dass alle es hören konnten. »Du tust das alles aus Liebe und Freundschaft für mich. Ich danke dir aus tiefstem Herzen dafür.«
Ich machte eine Geste, weil ich plötzlich kein Wort herausbrachte und verlegen war, dass sie mir dankte, obwohl auch die anderen bereit waren, für sie in die Leere zu springen. Aber sie war noch nicht fertig.
»Ich liebe dich, Raul«, sagte Aenea und stellte sich auf Zehenspitzen, damit sie mich auf die Lippen küssen konnte. Sie lehnte sich zurück und sah mich mit ihren unergründlichen dunklen Augen an. »Ich liebe dich, Raul Endymion. Ich habe dich immer geliebt. Ich werde dich immer lieben.«
Ich stand bestürzt und überwältigt da, während wir alle uns an die Schnüre unserer Paragleiter klinkten und am Rande des Nichts standen.
Lhomo klinkte sich als Letzter ein. Er ging von A. Bettik über Aenea zu mir, überprüfte unsere Takelage, kontrollierte jeden verschraubten Bolzen, jede Klemme, jede Instaschweißnaht unserer Drachen. Als er fertig war, nickte er A. Bettik anerkennend zu, klinkte sich mit aus langer Übung geborener Schnelligkeit an das Gestell seines roten Gleiters und trat an den Rand der Klippe. Nicht einmal die Sukkulenten wuchsen noch auf diesem letzten Abschnitt, als fürchteten auch sie sich vor dem Abgrund. Ich fürchtete mich auf jeden Fall. Der letzte Felsensims war steil und schlüpfrig vom Regen. Der Nebel wallte wieder.
»Es wird schwer, einander in dieser Suppe zu sehen«, sagte Lhomo.
»Kreist nach links. Bleibt auf fünf Meter an eurem Vordermann. Dieselbe Ordnung wie bei unserem Fußmarsch – Aenea mit dem gelben Drachen nach mir, dann der blaue Mann mit dem blauen, dann Sie, Raul, mit Ihrem grünen. Unser größtes Risiko ist es, einander in den Wolken zu verlieren.«
Aenea nickte nervös. »Ich bleibe dicht an deinem Gleiter.«
Lhomo sah mich an. »Sie und Aenea können über die Kom-Fasern Ihrer Hautanzüge kommunizieren, aber das wird Ihnen nicht helfen, einander zu finden. A. Bettik und ich werden uns durch Handzeichen verständigen.
Seid vorsichtig. Verliert den Drachen des blauen Mannes nicht aus den Augen. Falls doch, kreist im Gegenuhrzeigersinn, bis ihr über der Wolkendecke seid, und versucht, euch neu zu formieren. Haltet die Kreise eng, solange ihr in den Wolken seid. Wenn ihr größere zieht – was bei Paragleitern häufig geschieht –, werdet ihr gegen die Felswand prallen.«
Mein Mund war trocken, als ich nickte.
»Nun gut«, sagte Lhomo. »Wir sehen uns über den Wolken. Dann werde ich die Thermik für euch finden, die Aufwinde vom Grat bestimmen und euch in die Strahlströmung bringen. Ich werde solche Signale geben« – er ballte die Faust und ruderte zweimal mit dem Arm –, »wenn ich euch verlasse. Steigt höher und kreist. Fliegt so tief in die Strömung, wie ihr könnt. Steigt in die oberen atmosphärischen Winde auf, bis ihr glaubt, dass sie eure Segel zerfetzen. Vielleicht passiert das sogar. Aber ihr habt keine Chance, T’ai Shan zu erreichen, wenn ihr nicht ins Zentrum der Strömung gelangt. Es sind einhundertelf Klicks bis zum ersten Hang des Großen Gipfels, wo ihr wieder richtige Luft atmen könnt.«
Wir nickten alle.
»Möge der Buddha heute auf unsere Torheit herablächeln«, sagte Lhomo.
Er wirkte sehr glücklich.
»Amen«, sagte Aenea.
Lhomo drehte sich ohne ein weiteres Wort herum und sprang über den Rand der Klippe. Aenea folgte eine Sekunde später. A. Bettik beugte sich in seinem Harnisch weit nach vorn, sprang vom Sims ab und wurde binnen Sekunden von Wolken verschluckt. Ich beeilte mich, ihn einzuholen. Plötzlich hatte ich keinen Boden mehr unter den Füßen
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