Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
nicht wussten oder weil er bis zu diesem Augenblick selbst nicht daran gedacht hatte. »Dies ist die Karwoche«, fuhr er leise fort, als würde er Selbstgespräche führen. »Die ganze Woche muss Seine Heiligkeit sowohl seinen päpstlichen Verpflichtungen wie auch denen gegenüber der Diözese nachkommen. Heute... an diesem Nachmittag... ganz bestimmt während dieser Messe führt er die Zeremonie aus, zwölf Priestern die Füße zu waschen, die die zwölf Apostel symbolisieren, denen Jesus Christus vor dem letzten Abendmahl die Füße gewaschen hat. Die Zeremonie wurde immer in der Diözesankirche des Papstes abgehalten, der Kathedrale San Giovanni in Laterano, die an der Mauer des Vatikans lag, aber seit der gesamte Vatikan nach Pacem gebracht wurde, findet sie im Petersdom statt.
Die Kathedrale San Giovanni in Laterano wurde während der Hegira zurückgelassen, weil sie im einundzwanzigsten Jahrhundert – im Krieg der Sieben Nationen – zerstört wurde und...« De Soya hörte mit seinem – wie ich fand – nervösen Geplapper auf. Sein Gesicht war so ausdruckslos geworden, wie man es von Epileptikern oder zutiefst nachdenklichen Menschen kennt.
Aenea und ich warteten. Ich muss gestehen, dass ich etwas nervös zu der Patrouille schwarz gekleideter Sicherheitskräfte des Pax sah, die auf dem langen Boulevard in unsere Richtung marschiert kamen.
»Ich weiß, wie wir in den Vatikan hineinkommen«, sagte Pater de Soya und wandte sich zu einer Gasse gegenüber dem breiten Boulevard.
»Gut«, sagte Aenea und folgte ihm rasch.
Der Jesuit blieb unvermittelt stehen. »Ich glaube, ich kann uns hineinbringen«, sagte er. »Aber ich habe keine Ahnung, wie wir wieder herauskommen sollen.«
»Bitte bringen Sie uns einfach hinein«, sagte Aenea.
Die Stahltür lag an der Rückseite einer verfallenen, fensterlosen, aus Stein gemauerten Kapelle drei Blocks vom Vatikan entfernt. Sie war mit einem kleinen Vorhängeschloss und einer großen Kette gesichert. Auf einem Schild an der verschlossenen Tür stand: FÜHRUNGEN NUR AN JEDEM ZWEITEN SAMSTAG. In der Karwoche geschlossen. INFORMATION: TOURISTIKBÜRO DES VATIKANS, 3888 PLATZ DER ERSTEN CHRISTLICHEN MÄRTYRER.
»Können Sie diese Kette zerbrechen?«, fragte mich Pater de Soya.
Ich tastete die massive Kette und das solide Schloss ab. Mein einziges Werkzeug oder Waffe war das Jagdmesser in der Scheide am Gürtel.
»Nein«, sagte ich. »Aber vielleicht kann ich das Schloss knacken. Sehen Sie nach, ob Sie in diesem Abfallmodul da drüben ein Stück Draht finden...
Blumendraht genügt.«
Wir standen mindestens zehn Minuten im Nieselregen, während es ringsum immer dunkler wurde und der Verkehrslärm auf dem Boulevard lauter zu werden schien, und rechneten jeden Moment damit, dass Schweizergarde oder Wachpersonal uns stellen würde. Wie man Schlösser knackte, darüber hatte ich alles von einem alten Spieler auf einem Flussboot auf dem Kans gelernt, der sich dem Spielen zugewandt hatte, nachdem ihm die Behörden in Port Romance zwei Finger wegen Diebstahls abtrennen ließen. Während ich arbeitete, dachte ich an die zehnjährige Odyssee von Aenea und mir, an Pater de Soyas lange Reise hierher, an Hunderte Lichtjahre, die wir zurückgelegt hatten, an Zehntausende Stunden voller Schmerzen und Anspannung und Entbehrungen und Angst.
Und das gottverdammte billige Schloss gab nicht nach.
Schließlich brach meine Messerspitze ab. Ich fluchte, warf das Messer weg und rammte das elende, blöde, beschissene Schloss mitsamt der Kette gegen die schmutzige Steinmauer. Das Vorhängeschloss sprang klickend auf.
Im Inneren war es dunkel. Falls es einen Lichtschalter gab, konnte ihn niemand von uns finden. Falls es irgendwo eine idiotische KI gab, die die Lichter kontrollierte, gehorchte sie unseren Befehlen nicht. Keiner von uns hatte eine Lampe mitgebracht. Nachdem ich jahrelang eine Lasertaschenlampe mit mir herumgeschleppt hatte, hatte ich sie heute im Rucksack gelassen. Als der Zeitpunkt gekommen war, die Yggdrasill zu verlassen, hatte ich Aeneas Hand ergriffen und keinen Gedanken an Waffen oder notwendige Gegenstände verschwendet.
»Ist das die Kathedrale von San Giovanni in Laterano?«, flüsterte Aenea.
Es war in dieser bedrückenden Dunkelheit unmöglich, anders als flüsternd zu sprechen.
»Nein, nein«, flüsterte Pater de Soya. »Nur eine winzige Gedächtniskapelle, die im einundzwanzigsten Jahrhundert neben der ursprünglichen...« Er verstummte, und ich konnte mir
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