Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
vorstellen, wie sein nachdenklicher Ausdruck zurückkehrte. »Ich glaube, es ist eine Kapelle, die noch genutzt wird«, sagte er. »Wartet hier.«
Aenea und ich berührten uns an den Schultern, während wir hörten, wie Pater de Soya sich an der Wand des winzigen Gebäudes entlangtastete.
Einmal fiel etwas Schweres mit einem Geräusch von Eisen auf Stein um, und wir hielten alle den Atem an. Eine Minute später hörten wir wieder, wie seine Hände über die Mauer glitten und seine Soutane raschelte. Ein gedämpftes »Ahhh...« ertönte, einen Moment später flackerte ein Licht auf.
Der Jesuit stand keine zehn Meter von uns entfernt und hielt ein angezündetes Streichholz hoch. In der linken Hand hielt er ein Päckchen Streichhölzer. »Eine Kapelle«, erklärte er. »Sie haben immer noch den Schrank für die Votivkerzen.« Ich konnte sehen, dass die Kerzen selbst heruntergeschmolzen und nie ersetzt worden waren, aber die Halter und dieses Päckchen Streichhölzer lagen seit wer weiß wie lange an diesem dunklen, verlassenen Ort herum. Wir traten zu Pater de Soya in den kleinen Lichtkreis, warteten ab, bis er ein zweites Streichholz angezündet hatte, und folgten ihm zu einer schweren Holztür hinter verrottenden Vorhängen.
»Pater Baggio, mein Auferstehungskaplan, hat mir von diesem Weg erzählt, als ich vor einigen Jahren hier unter Hausarrest stand«, flüsterte Pater de Soya. Diese Tür war nicht abgeschlossen und ließ sich mit einem Quietschen uralter, ungeölter Scharniere öffnen. »Ich glaube, er dachte, es würde meinen Sinn für das Makabre ansprechen«, fuhr Pater de Soya fort und führte uns eine schmale Wendeltreppe hinab, die nicht viel breiter als meine Schultern war. Aenea folgte dem Priester. Ich hielt mich dicht an Aenea.
Die Treppe führte nach unten, dann noch ein Stück weiter nach unten und dann noch ein Stück. Ich schätzte, dass wir uns mindestens zwanzig Meter unter der Ebene der Straße befanden, als die Treppe schließlich aufhörte und wir durch eine Reihe schmaler Korridore in einen breiteren, hallenden Durchgang kamen. Bis dahin hatte der Priester ein halbes Dutzend Streichhölzer verbraucht, obwohl er jedes erst fallen ließ, wenn er sich die Finger verbrannte. Ich fragte ihn nicht, wie viele Streichhölzer noch in dem kleinen Päckchen waren.
»Als die Kirche während der Hegira beschloss, den Petersdom und den Vatikan zu versetzen«, sagte de Soya mit so lauter Stimme, dass sie in dem dunklen Raum hohl klang, »brachten sie ihn en masse nach Pacem, wozu sie schwere Feldheber und Traktorfeldtürme benutzten. Da Masse kein Problem war, haben sie halb Rom mitgebracht, einschließlich des riesigen Castel Sant’ Angelo und alles unter der Altstadt bis zu einer Tiefe von sechzig Metern. Das war das U-Bahn-System des zwanzigsten Jahrhunderts.«
Pater de Soya marschierte los, und ich merkte erst jetzt, dass wir uns auf einem verlassenen Bahnsteig befanden. Stellenweise waren die Deckenfliesen heruntergefallen, und abgesehen von einem schmalen Trampelpfad lag überall der Staub von Jahrhunderten, heruntergefallene Steine, Plastiktrümmer, unleserliche Schilder im Schmutz und umgestürzte Bänke.
Wir gingen mehrere rostige Stahltreppen hinab – Rolltreppen, die vor mehr als einem Jahrtausend zum Stillstand gekommen waren, wurde mir klar –, einen schmalen Flur entlang, der in eine hallende Rampe abwärts einmündete, und weiter auf einen anderen Bahnsteig. Am Ende dieses Bahnsteigs konnte ich eine Fiberplastikleiter sehen, die hinabführte, wo die Schienen gewesen waren... wo die Schienen immer noch unter einer Schicht von Staub, Geröll und Rost lagen.
Wir waren gerade die Leiter hinuntergeklettert und in den U-Bahn-Tunnel getreten, als das nächste Streichholz erlosch. Aber erst, nachdem Aenea und ich gesehen hatten, was vor uns lag.
Knochen. Menschenknochen. Knochen und Schädel, auf beiden Seiten eines schmalen Durchgangs zwischen rostigen Gleisen fein säuberlich fast zwei Meter aufgeschichtet. Gewaltige Haufen Knochen, Gelenke nach außen, Schädel penibel in Abständen von einem Meter angeordnet oder zu geometrischen Mustern in den unebenmäßigen Wänden aus Menschenknochen arrangiert.
Pater de Soya zündete das nächste Streichholz an und schritt zwischen den Überresten menschlicher Skelette dahin. Der Lufthauch seiner Bewegung ließ die winzige Flamme flackern, die er hochhielt. »Nach dem Krieg der Sieben Nationen im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert«, sagte er
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