Engel des Todes
Zug aus und sah Tom dabei kühl an.
Phil kam mit der Frau im Schlepptau zurück. Sie war ungefähr Mitte sechzig und hatte das graue Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine Hand steckte in der Tasche einer gelben Wetterjacke, die sie über einem dicken Fleecepulli trug. In der anderen Hand hielt sie eine große Plastiktasche. Sie wirkte verlegen und machte eine Miene, als wollte sie sich entschuldigen.
Toms Mut begann zu sinken.
»Das ist Patrice Anders.« Mit diesen Worten stellte Connelly sie vor. »Patrice wohnt einige Meilen von Howard’s Point entfernt. Ich weiß nicht, ob Sie das auf Ihren Karten bemerkt haben, dieses kleine Wohngebiet jenseits des nächsten Highways in die Berge hinauf. Das sollte mal ein großes Entwicklungsprojekt werden. Bis jetzt ist Mrs. Anders aber die einzige Bewohnerin.«
»Schön, Sie kennenzulernen«, sagte Tom, »aber ich verstehe den Zusammenhang nicht.«
Connelly schaute die Frau an und hob die Augenbrauen.
»Da draußen im Wald, das war ich.«
Tom starrte sie an. »Wie meinen Sie das?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir wirklich leid. Ich bin viel zu Fuß unterwegs. Ich mache bei mehreren Forschungsvorhaben mit, die das Leben der Tiere in freier Wildbahn zum Gegenstand haben. Ich notiere, was sich im Lauf des Jahres beobachten lässt. Ob das einen wirklichen Nutzen hat, weiß ich nicht, besonders wissenschaftlich ist das nicht, was ich mache.« Sie zuckte die Achseln. »Na, ich tue es jedenfalls. Und vorgestern Morgen war ich schon ziemlich früh unterwegs, da sah ich etwas am Grund der Schlucht liegen. In Luftlinie war es nicht weit von meiner Grundstücksgrenze entfernt. Das ist ein gutes Stück Weg. Aber ich wandere gern. Ich stieg also hinunter und sah einen Rucksack. Da ich nicht wusste, ob ihn jemand holen würde, ließ ich ihn dort liegen.«
Tom sah zu Connelly hinüber. »Gut. Und weiter?«
»Die Fußspuren, die Sie gesehen haben, gehörten Mrs. Anders.«
»Quatsch. Haben Sie mir denn überhaupt nicht zugehört? Die Fußspuren waren wirklich riesig.«
»Lassen Sie die Sonne eine Stunde scheinen, dann schmelzen die Ränder weg, und die Spuren sehen viel größer aus.«
Einen Augenblick lang dachte Tom daran, über den Tisch zu hechten und den Mann an der Gurgel zu packen. Ihm war klar, dass das keine gute Idee wäre, nicht nur, weil der andere das Gesetz vertrat.
Er versuchte also ruhig zu bleiben. Schließlich hatte er das ausschlaggebende Argument.
»Schön. Und die Sonne sorgt auch dafür, dass die Fußspuren fünf hübsch aufgereihte Zehen haben, ja? Da hätten Sie aber eine komische Sonne hier oben.«
Eine Weile herrschte Stille, dann war ein Rascheln zu hören. Die Frau holte etwas aus ihrer Tasche.
Im ersten Augenblick begriff Tom nicht, was er nun sah. Dann spürte er ein Kribbeln im Nacken.
»Die kann man in Cle Elum kaufen«, sagte sie. »Eigentlich ist es ja albern, aber dann ist es auch wieder witzig. Mein Mann hat sie mir zum Spaß gekauft.«
Tom starrte auf die Schuhe, die in der Gegend ein Modegag waren. Auf der Oberseite waren sie mit Pelz überzogen, während die Sohlen aus Plastik bestanden – mit fünf großen Zehen am Ende.
Phil führte die Frau wieder hinaus. Vielleicht bildete Tom es sich nur ein, aber ihm schien, als ob der Deputy sich ein wenig wegen Tom schämte. Zumindest hoffte er das. Schließlich gab es im Umkreis von hundert Meilen nicht viele Leute, mit deren Mitgefühl er rechnen durfte.
Connelly schaute zur Uhr an der Wand. Er holte eine zerdrückte Zigarettenpackung aus der Brusttasche seines Hemdes und zündete sich eine Zigarette an.
»Ein denkwürdiger Tag«, sagte er. »So viel Aufregung auf einmal, das hätte ich mir heute Morgen nicht träumen lassen.« Er streifte etwas Asche in den Aschenbecher. »Hier ist gewöhnlich nicht viel los, wie Sie sich wohl denken können. Sicherlich haben Sie auch gemerkt, dass ich gerade das an dieser Gegend schätze.«
Tom schüttelte nur den Kopf. »Aber ich weiß doch, was ich gesehen habe.«
»Einen Scheiß haben Sie gesehen, Mr. Kozelek.« Die grauen Augen des Polizisten waren kalt. »Sie sind mit einer schlimmen Absicht in die Wildnis gegangen. Ich will gar nicht darüber reden, wie unverantwortlich das ist, angesichts der Tatsache, dass andere Leute dann losziehen und Sie dort suchen müssen, egal, aus welchen Gründen ein Mann in die Wildnis gegangen ist. Sie haben sich mit Alkohol und Schlaftabletten in einen Zustand jenseits von Gut und Böse
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