Engelsauge - Die Jagd beginnt (German Edition)
in der Anlage, die nun durch mein Zimmer säuselten. Ich konnte meine Gefühle und Gedanken kaum ordnen, zu viel war in den letzten Stunden passiert. Also tat ich das, was ich sonst auch immer tat, wenn in meinem Kopf ein einziges Durcheinander herrschte. Ich versuchte zu analysieren.
Allerdings fiel mir das in dieser Nacht zunehmend schwerer. Ich war allein und ich fühlte mich auch so. Ich habe mich oft allein gefühlt, aber nun gab es eine neue Tatsache, eine ganz neue Richtung. Nämlich, dass ich in Wahrheit gar keine Familie mehr besaß. Ich war bei Menschen aufgewachsen, mit denen ich nicht verwandt war und auch jetzt lebte ich bei einem Mann, der nicht mein richtiger Onkel war. Mir stiegen erneut Tränen in die Augen, doch wie schon zuvor schüttelte ich sie weg. Zumindest jetzt klappte es noch. Doch dann übertrumpfte mein Herz vorerst meinen Kopf. Ich wollte immer bei Stewart leben und er wollte mich bei sich haben, obwohl er nicht mein leiblicher Onkel war, mir aber nie das Gefühl gegeben hatte, dass ich unerwünscht sei oder dass er mich nicht lieben würde.
Ganz im Gegenteil sogar. Ich hatte keine leibliche Familie, na schön, so erging es leider vielen anderen auch, aber ich hatte Stewart und er hatte mich. Ich hielt mich an diesem Strohhalm fest, denn er gab mir neuen Mut. Und ich hatte Jadon. Egal, was für Schwierigkeiten jetzt auf uns zukämen, es würde nichts an unseren Gefühlen füreinander ändern! Ich hatte eine Familie, wenn auch anders, wie ich immer dachte. Und dann fiel es mir ein, musste da doch auch noch die Familie meines Vaters sein. Echte Großeltern und vielleicht auch Tante, Onkel, Cousinen ... Ja, meine leibliche Familie, es muss sie geben und ich würde sie eines Tages finden. Dann, wenn ich den Unfalltod meiner Eltern endgültig geklärt hätte.
6
Stillstand
Die ganze nächste Woche ging ich nicht in die Uni, obwohl ich Stewart in diesem Glauben ließ. Er verließ vor mir das Haus und wenn er im Laufe des Nachmittags oder Abends wieder kam, fand er es völlig normal, dass ich auch schon da war. Mein Leben stand auf dem Kopf, alles hatte sich geändert und das Letzte, was ich jetzt wollte, war in einem vollen Raum mit anderen Studenten sitzen oder mit Stewart reden, der die ganze Zeit wusste, dass ich nicht seine echte Nichte war.
Den Tanzunterricht schwänzte ich ebenso. Ich konnte niemandem etwas davon erzählen, außer den Cartwrights, aber mit denen konnte und wollte ich nicht über meine Gefühlssituation sprechen. Mit einer guten Freundin wie Alice würde ich gerne reden, aber was hätte ich auch sagen können. Selbst in meinen Ohren klang das Ganze noch völlig idiotisch. Also ließ ich Stewart in dem Glauben, alles sei in Ordnung und Alice hatte ich kurz Bescheid gegeben, dass es mir nicht gut ginge und sie mir alle Unterlagen aufheben sollte, was sie natürlich gerne tat.
Die nächsten Tage ging ich immer wieder an die besagte Stelle an der Klippe, wo der Unfall passiert war. Jadon ließ mich in Ruhe, beobachtete mich aber die ganze Zeit aus sicherer Entfernung, um gegebenenfalls eingreifen zu können, falls Gefahr drohte. Er war, nachdem was gesagt wurde, noch vorsichtiger in Bezug auf die anderen Vampire geworden. Zu wissen, dass er immer in meiner Nähe war, gab mir wirklich ein sichereres Gefühl. Zuviel veränderte sich in meinem Leben und ich schien mich, wie in einem Karussell zu drehen, ohne zu wissen, wann ich abspringen musste.
»Hey, geht es dir jetzt langsam wieder besser?«, fragte mich Jadon und stellte sich neben mich. Zusammen schauten wir eine Weile schweigend auf das Meer.
»Soweit geht es mir gut.« Doch als ich mich zu ihm umdrehte und in seine Augen sah, konnte ich ihm nichts länger vormachen.
»Okay, um ehrlich zu sein, geht es mir nicht gut. In mir dreht sich einfach alles und ich kann einfach nicht klar denken.«
Er nickte und nahm mich in den Arm, was genau das war, was ich jetzt brauchte. Danach setzten wir uns auf einen Stein und ich lehnte mich an seine starke Schulter, in der Hoffnung, der Schwindel ginge dadurch weg.
»Zu welchem Entschluss bist du gekommen?«, wollte er von mir wissen.
»Ich werde damit leben müssen, was anderes bleibt mir ja auch nicht übrig, aber ich werde den Tod meiner Eltern nicht einfach so hinnehmen, das ist mir definitiv klar geworden.«
Jadon schob mich etwas von sich weg, um mir besser ins Gesicht sehen zu können.
»Weißt du eigentlich, was du da sagst, Enya? Es ist ja nicht so, dass ich dich
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