Engelsfuerst
Revolver, als messe er ihm keine besondere Bedeutung bei. Warum sollte er auch? Er konnte so gut
wie sicher sein, daß seine Gefangenen keinen Fluchtversuch unternehmen würden. So schwach, wie Enrico noch war, würde er keine hundert Meter weit
kommen.
Der Konvoi wurde langsamer, eine Weile ging es
noch mit Schrittgeschwindigkeit voran, und dann kam
er zum Stehen. Stimmen mischten sich in das monotone Brummen der Motoren, und die Wagen fuhren
wieder an, nur um nach einem kurzen Stück endgültig
anzuhalten. Das Motorengeräusch erstarb.
Als endlich die Tür geöffnet wurde, sog Enrico
dankbar die kühle Nachtluft ein. Seine Übelkeit verging, aber die innere Erregung wuchs ins Unerträgliche. Sein Vater nickte ihm kaum merklich zu mit einem Gesichtsausdruck, der zu sagen schien: »Ich spüre es auch.«
Giuseppe stieg aus, sprach kurz mit jemandem und
wandte sich den drei übrigen Insassen zu.
»Die Reise ist zu Ende, alles aussteigen, bitte.«
Das »Bitte« begleitete er mit einer entsprechenden
Bewegung seines Revolvers. »Francesco, du hilfst deinem Freund Enrico, ja?«
Mit der Hilfe seines Vaters und Francescos, die ihn
auch draußen stützten, verließ Enrico den Lieferwagen, der in einer Reihe mit den drei anderen Wagen
und weiteren Fahrzeugen stand, darunter Geländewagen und Lkw. Schwarzgekleidete Männer, die Maschinenpistolen über der Schulter hängen hatten, hielten Wache.
Ein Schwarzgekleideter, der nur eine Pistolentasche
an der Hüfte trug, salutierte vor Tommasio und
schien ihm Meldung zu machen.
Enrico konnte nicht verstehen, was er sagte, aber es
war ein seltsamer Anblick, diesen Mann vor dem Abt
in seiner Mönchskutte strammstehen zu sehen.
»Tommasio ist kein Abt«, sagte Lucius, der die Gedanken seines Sohns erraten hatte. »Jedenfalls nicht
nur. Ich denke, er ist gleichzeitig der General dieser
kleinen Armee.«
»Aber was für eine Armee ist das?«
»Eine private, geheime, verbotene. Eine, von der
wir gehofft haben, daß sie nicht mehr existiert. Die
Armee von Totus Tuus.«
»Glaubst du wirklich …«
»Sieh dir das Wappen an«, unterbrach Lucius seinen Sohn und zeigte auf einen der Bewaffneten, der,
wie alle anderen auch, ein weißes Zeichen auf der linken Brust trug: ein Kreuz, dessen Balken oben und an
der rechten Seite in Querstriche mündeten und dadurch wie zwei einander im rechten Winkel kreuzende Ts aussahen; oben rechts zwischen den Balken
hockte ein Krebs.
»Dieses Wappen besteht aus zwei Taukreuzen, die
in der Johannes-Offenbarung das Siegel Gottes, das
Zeichen der Erlösung, symbolisieren. Und der Krebs
als ein Tier, das seinen Panzer auswechseln kann, ist
ein Symbol für Jesu Auferstehung. Kein Zweifel, diese
Männer gehören dem verbotenen Orden an.«
Enrico fuhr zu Francesco herum, so abrupt, daß
dieser den Blick nicht abwenden konnte, und fragte:
»Stimmt das? Gehörst auch du zu Totus Tuus?«
Francesco nickte nur.
»Ein seltsamer Ort ist das hier«, murmelte Enrico
und sah sich um.
Mehrere Scheinwerfer erhellten den großen, ovalen
Platz. Zunächst hatte er geglaubt, in einer riesigen
Halle zu stehen, aber dazu war der Wind zu stark.
Und doch war über ihnen kein Himmel, gab es weder Mond noch Sterne und auch keine Wolken, hinter
denen die Gestirne sich hätten verstecken können.
Was Enrico für das Dach einer Halle gehalten hatte,
entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als riesige
Plane.
Tommasio trat auf sie zu und fragte mit aufgesetzter Höflichkeit: »Habt ihr die Fahrt gut überstanden?«
»Man hat sich gut um mich gekümmert«, antwortete Enrico mit einem Seitenblick auf Francesco. »Wo
sind wir hier? Was hat die Plane zu bedeuten?«
Tommasio blickte nach oben.
»Das ist ein Tarnnetz. Aus der Luft kann dieser Ort
nicht entdeckt werden, weil das Netz die Struktur von
Felsgestein vortäuscht. Wenn man so will, befinden
wir uns in einem verborgenen Tal, wie man es aus alten Abenteuerfilmen kennt. Nur gibt es hier weder
Steinzeitmenschen noch Dinosaurier.«
»Sondern?« fragte Enrico gespannt.
»Weißt du die Antwort nicht längst?« fragte Tommasio zurück. »Spürst du nicht die Kraft, die von diesem Ort ausgeht?«
»Doch, ich spüre sie.«
Es war wie ein leichtes Brennen, das Enrico vom
Kopf bis zu den Zehen durchströmte, aber nicht unangenehm war. Im Gegenteil, er fühlte seine Kräfte
zurückkehren, als sei er an eine Art Ladegerät angeschlossen. Tatsächlich ließ sich das, was er spürte, mit
elektrischem Strom vergleichen, der mit
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