Engpass
Bramlitz verantwortlich ist, den wird sie finden.
Mit Make-up kaschiert Elsa ihre Augenringe. Darin ist sie geübt. Durchgearbeitete Nächte kennt sie gut. Jahrelange Erfahrung macht erfinderisch, was das Aussehen am nächsten Morgen anbelangt. Nachdem sie sich von Anna verabschiedet hat, die heute nicht zur Schule geht, verlässt sie das Haus. ›Wir reden am Abend ausführlich‹, hat sie ihrer Tochter vorgeschlagen. Anna hat nur stumm genickt. Kleinlaut? Um Worte verlegen? Oder nur bockig? Elsa ringt noch um die passende Antwort.
Im Büro angekommen, lässt sie sich in den Stuhl fallen. Gedankenlos stiert sie aus dem Fenster. Zwei Minuten? Drei, fünf? Die Zeit verliert jede Empfindung. Schon wieder Regen draußen. Dicke graue Wasserfäden, die kaum einen Zwischenraum zum Schauen freilassen. Die Wiesen sind mit Wasser vollgesogen. Bald stehen die Felder unter Wasser. Die Bäche und Flüsse schwellen an. Angst, nicht nur unter den Bauern.
Die Frau beim Bäcker, die ihr heute früh frisches Gebäck verkauft hat, redete sich die Sorgen von der Seele. Unerwartet offen und unzensiert. Obwohl sie eine Fremde ist, durfte sie mitreden. Elsa hatte, nach wenigen Sätzen ihrerseits, pflichtschuldig genickt, einen schönen Tag gewünscht und den Laden verlassen.
Beim kurzen Frühstück hat Anna sie kaum angeschaut. Sie schämt sich, vermutet Elsa. Die frischen Brötchen, das Dinkelbrot und die Brioches waren als Aufforderung an sie gedacht. Eine kulinarische Einladung zum Reden. Die hat Anna erst mal ausgeschlagen. ›Das Leben geht weiter‹, hat Elsa gemurmelt. Mehr zu sich als zu Anna. Eine idiotische Floskel. Elsa hofft, dass Anna es nicht gehört hat. Bis auf ein Kipferl, das sie in ihren Kaffee getunkt und gegessen hat, ist alles liegen geblieben. Das mit der Kaffeeabstinenz, das klappt auch nicht.
»Wer aus dem Fenster starrt, sieht das Wesentliche auf dem Schreibtisch natürlich nicht.« Eine Hand legt sich von hinten in ihren Nacken. Erschrocken fährt Elsa herum. Starrt den Mann an, der sich derart nah an sie herantraut. Ben Fürnkreis lächelt ihr entgegen. Sie hat ihn nicht hereinkommen hören. Elsa steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. Einen Eindruck, den sie zu korrigieren versucht.
»Nanu? Schlecht geschlafen? Ist etwas aufs Gemüt geschlagen?«, will Ben von ihr wissen. Er fläzt sich, unaufgefordert, auf ihren Schreibtisch, schlägt die Beine übereinander und grinst. Dabei verschränkt er die Finger ineinander und legt sich die Arme, einer Stütze gleich, hinter den Kopf. Sein Blick deutet auf eine Notiz direkt vor ihr. Elsa versucht, Degenwalds Schrift zu entziffern: ›Bin unterwegs. Nehmen Sie sich noch mal Birgit Leiner vor! Lieben Gruß. D.‹
»Lieben Gruß?«, wiederholt Ben schmunzelnd. »Sollte ich etwas verpasst haben? Seit wann lasst ihr einander liebe Grüße zukommen? Schon in der Früh?« Ben grinst noch breiter, während er auf etwas anderes zu sprechen kommt.
»Die Leiner, die sollten Sie mal in die Mangel nehmen, Elsa. Für meinen Geschmack ist die nicht ganz dicht. Ein bisschen angeschmiert, was die Gehirnzellen und ihre Vorstellungen übers Leben anbelangt.«
»Das will noch nichts heißen«, bremst Elsa ihn. »Wo wohnt Frau Leiner eigentlich?«, will sie dann wissen.
»Im Nebentrakt der Maihausers. Ihre Eltern haben allerdings noch eine Hütte in den Bergen. Da hat sie früher fast jedes Wochenende verbracht. Von innen ist die gar nicht unansehnlich. Von außen ist allerdings nichts dahinter. Ihre Eltern leben seit Kurzem im Seniorenstift in Marquartstein. Ob es die Hütte jetzt noch gibt, weiß ich nicht. Aber das wird die Leinerin Ihnen sicher liebend gern auf die Nase binden. Reden ist schließlich ihre zweite Berufung, neben der, dem Maihauser alles vom Hals zu schaffen.«
»Dem Maihauser alles vom Hals schaffen?« Elsa grinst. »Auf die Wortwahl würde ich ein bisschen aufpassen«, schlägt sie vor. »Wo liegt die Hütte denn?«
»Am Taubensee. Die Wanderstrecke um den See ist schön. Gehzeit vier Stunden, wenn man das Verkehrsamt in Schleching als Ausgangspunkt annimmt. Gutes Schuhwerk vorausgesetzt. Wenn Sie mögen, Frau Kollegin, zeige ich Ihnen den Weg über den idyllisch schroffen Gebirgssattel. Der führt über den Kroatensteig. Der Taubensee hat seinen Namen übrigens den Flusskrebsen zu verdanken. Die gibt’s auch heute noch. Als Kinder haben wir damit alles Mögliche und Unmögliche angestellt. Die Landesgrenze zwischen Bayern und Österreich
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