Engpass
Pflicht als beste Freundin voll und ganz erfüllt. Noch nie war ihr das derart wichtig wie jetzt.
Zurück im Erdgeschoss richtet sie sich Abendessen in der Küche. Ein Brot mit Schinken, dazu ein kaltes Bier. Bramlitz-Bier. Später schaut sie sich den Anfang einer romantischen Liebeskomödie im Fernsehen an. Lange hält sie nicht durch. Beim ersten Kuss dreht sie ab. Ins Bett gehen, das wird sie mit dem angebrochenen Abend anfangen. Einfach ins Bett legen, schlafen und morgen früh aufstehen und beweisen, dass auch sie, die Städterin, sich den Bergen aussetzen kann. Besser als romantischen Küssen. Momentan zumindest.
Am nächsten Morgen die Ernüchterung. Ein Sturm fegt über Oberbayern. Er bringt eisige Temperaturen mit sich, die nicht mit dem Monat September zusammenpassen wollen. Im Radio wird eine Wetterwarnung ausgesprochen. Von Bergtouren und Ähnlichem wird dringend abgeraten.
Elsa fährt nach einem schnellen Kaffee, der als Frühstücksersatz gedacht war, nach Traunstein.
Dort angekommen, sieht sie Degenwalds grünen Audi auf dem Parkplatz stehen. Er ist also schon im Büro. Sie schaut kurz hinauf. Sucht sein Fenster. Als sie es gefunden hat, fällt ihr ein, dass heute die von ihm erwähnte Putzfrau bei ihm sauber macht. Übermorgen, hat Degenwald am Abend ihres gemeinsamen Essens erwähnt. Elsa dreht um und fährt zurück nach Unterwössen. In ihrer Straße angekommen, biegt sie in den Kirchackerweg. Den Hochgern im Blick, fährt sie die Straße mit den Einfamilienhäusern hinauf. Kurz vor Degenwalds Haus, das am Waldrand liegt, biegt sie in eine Parallelstraße, fährt sie bis zur Mitte und parkt ihren Wagen unauffällig neben anderen. Sie steigt aus ihrem Golf und steuert zu Fuß Degenwalds Domizil an. Von einem großen Garten bewacht, liegt das Haus einsam da. Obstbäume und Wiesen, sonst nichts. Elsa öffnet das Holztor und erobert den Garten. Bei der Eingangstür angekommen, klingelt sie. Es dauert eine ganze Weile, bis jemand öffnet. Als die Tür aufspringt, schaut ihr eine hübsche junge Frau entgegen. Vielleicht Mitte 30. Sehr ansprechend. Wo, um Himmels willen, bekommt man heutzutage solche Haushaltshilfen her?, schießt es Elsa in den Kopf.
»Ja bitte?«, fragt die Frau.
»Entschuldigen Sie, ich bin Dr. Degenwalds neue Kollegin. Elsa Wegener.«
»Lydia Schranz«, stellt die Haushaltshilfe sich vor.
»Karl hat wichtige Unterlagen zu Hause vergessen. Da ich ebenfalls in Unterwössen wohne und noch nicht unterwegs nach Traunstein war, hat er mich gebeten, sie ihm mitzubringen.« Elsa lächelt selbstbewusst. Keine Spur von Unsicherheit in ihrem Ausdruck. Wie leicht ihr Degenwalds Vorname über die Lippen gekommen ist, fällt ihr auf.
Elsas Flunkerei zeigt Wirkung. Lydia tritt beiseite, hilfsbereit lächelnd. »Dann kommen Sie mal rein.«
Elsa betritt den Vorraum mit großem Selbstverständnis. Ein ungewöhnlicher Fall verlangt nach ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden, motiviert sie sich im Stillen und schließt die Tür hinter sich.
Beim Umsehen fallen ihr die Schwarz-Weiß-Fotos auf. Alle mit Degenwald und seinen Eltern drauf, ist Elsa sich sicher. Sie streift Lydia mit einem Seitenblick. Die nickt.
»Dr. Degenwald und seine Eltern. Der ganze Flur ist damit tapeziert. Er hatte eine enge Beziehung zu ihnen.«
Die Frau bricht den Satz abrupt ab. Fast so, als sei ihr der plötzliche Einblick in die Seelenlage ihres Chefs sauer aufgestoßen. Sie deutet Richtung Treppe.
»Ich war gerade oben, im Dachgeschoss. Sie schauen sich um, brauchen mich nicht mehr, oder irre ich mich?«
»Nein, nein!«, entgegnet Elsa schnell. »Lassen Sie sich durch mich bitte nicht aufhalten. Ich werfe nur einen kurzen Blick ins Arbeitszimmer, finde hoffentlich rasch, was gesucht wird, und bin auch schon wieder weg.«
»Na dann!« Lydia nimmt die ersten Treppenstufen, als es in ihrer Hose läutet. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und nimmt das Gespräch an.
»Herr Doktor?«
Elsa schießt die Hitze in den Kopf, als sie hört, wen Lydia in der Leitung hat.
Mitten im Gehen bleibt die Haushälterin stehen und blickt sie an. Ausgerechnet jetzt ruft Degenwald zu Hause an. Wenn Lydia ihren Besuch erwähnt, ist sie geliefert. Dann bricht ihr mühsam aufgebautes Gerüst von Vertrauen und privater Beziehung in sich zusammen.
»Sie rufen sicher an, weil Sie etwas vergessen haben«, spricht Lydia ins Handy. Sie winkt Elsa zu sich heran. Sie wird doch nicht etwa ihr Telefon an sie weitergeben wollen?, malt
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