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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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erinnern. Die Frau hatte sie erkannt. »Wie heißen Sie denn nun genau.« fragte Selma. Sie hatte sich wieder hingesetzt. Sprach auf gleicher Höhe mit der Frau. Sah sie von der Seite an. »Ach ja.« murmelte die Frau. »Jetzt erkennt sie mich nicht mehr. Jetzt ist sie unsicher geworden. Jetzt hat sie sich getäuscht. Jetzt hat sie dich verwechselt. Jetzt wird sie gleich noch mehr Angst bekommen. Ja. Das hier ist ein gefährlicher Ort. Da ist es gut, wenn sie Angst hat. Sie hätte natürlich schon vorher Angst haben sollen und nicht mitgehen. Das wäre viel besser für sie gewesen, wenn sie nicht mitgekommen wäre. Was hat sie sich nur versprochen davon mitzukommen. Vielleicht hat sie doch Interesse an dir, mein Schatz. Vielleicht interessiert sie sich jetzt für dich. Vielleicht interessiert sie sich für deine Geheimnisse. Für die vielen kleinen Geheimnisse. Oder die großen. Was wird sie jetzt tun. Wird sie die Situation ausnutzen. Wird sie dir etwas versprechen und dann nichts halten. Das kann sie gut. Das kann sie sehr gut. Das kennen wir von der Frau Dr. Brechthold. Die Frau Dr. Brechthold ist eine Garantie für gebrochene Versprechen.« Die Frau hatte vor sich hingesprochen. Hatte auf den Tisch hin gesprochen. Hatte in ihr weißes Vuitton-Täschchen mit dem Vuitton-Logo in allen Sommerfarben gesprochen. Dann hatte sie sich zurückgelehnt. Mit den Händen abgestützt hatte sie den Kopf nach hinten gelegt. Ihre Kehle in einem hellen Bogen nach hinten gebeugt. Die Kehle preisgegeben. Sie schob sich auf der Couch nach vorne. Öffnete die Knie. Langsam. Bis die Beine weit auseinander. Das Kleid weit über den Busen heruntergerutscht. Die Träger über die Arme. Der weite Rock fiel zwischen die weit auseinander gespreizten Beine.
    »I can fill my space
    fill my time
    but nothing can fill this void in my heart«
    deklamierte sie. Sie saß still. Sie saßen beide still. Selma gelähmt. Sie bewegte sich nicht. Zwang sich nicht zu bewegen. Sie hatte Angst, wenn sie sich bewegte. Die andere Person. Etwas Schreckliches. Sie starrte die Frau an. Sie wollte gerade fragen, woher sie dieses Zitat kannte. Da setzte die junge Frau sich auf. Raffte ihr Kleid und saß im Schneidersitz auf dem Sofa. Das wäre eine Stelle aus einem Stück, das Selma nicht kenne. Nicht kennen könne. Aber das sei ja auch typisch. Die wirklich guten Stücke. Die wirklich neuen. Die kennten solche Typen wie sie nicht. Die wollten solche Typen wie sie nicht kennen. Weil es darum ging, die Personen, die solche Stücke schrieben, zu unterdrücken. Weil solche Typen, wie Selma eine war. Weil die solche Personen fürchten müssten, die solche Stücke schrieben. Die Frau zischte die Sätze. Böse. Anklagend. Vorwurfsvoll. Sie rutschte nach vorne und griff nach einer der bunten Glasschalen. Nahm sie in die Hand. Sie warf die Glasschale ohne ihre Vorwürfe zu unterbrechen über Selma durch die Fensterscheibe. Ein dumpfer Ton. Knacken. Die Schale fiel zu Boden. Auf dem Fensterglas liefen lange Risse. Selma konnte zusehen, wie die Risse sich ihren Weg bahnten. Wie die Enden der Risse bis an den Rand liefen. Wie die Risse immer langsamer bis an den Rand liefen und dann alles stillstand. Selma hatte sich geduckt. Saß geduckt verdreht auf die Fensterscheibe schauend. Sie stand auf. Sie musste sich abstützen. »Das ist nicht lustig.« sagte sie. »Das ist nicht mehr lustig.« Die Frau sprach weiter.
    »Everything passes
    Everything perishes
    Everything palls
    my thought walks away with a killing smile.«
    Selma ging zur Tür. Die Tasche vom Boden aufnehmend machte sie sich auf den Weg. Sie fände es immer richtig, Sarah Kane zu zitieren. Aber die Aktionen. Die actions. Die wären ihr auf der Bühne lieber. Selma presste ihre Handtasche gegen die Brust. Sie ging mit dem Oberkörper der Frau zugewandt seitlich. Die Tasche wie ein Schild. Ihre Tasche ein riesiges schwarzes Ungeheuer gegen das Vuitton-Täschchen auf dem Tisch. Alt. Sie kam sich so alt und ungeschlacht vor, wie ihre Tasche neben dem appetitlichen Vuitton-Sommertraum. Aber alt und hässlich. Sie wollte weg. In der Vuitton-Tasche läutete ein Telefon. Ein altmodischer Telefonklingelton. Ein Klingelton wie die ersten Telefone. Hell. Schrill. Ein Signal. In der Lange Gasse hatten sie lange Zeit nur ein Vierteltelefon haben können. Ein Anschluss hatte mit drei anderen Parteien geteilt werden müssen. An einer kleinen Scheibe vorne am schwarzen Gehäuse des Apparats hatte man sehen können, ob die

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