Entflammt von deiner Liebe: Roman (German Edition)
die Themse Londons Hauptschlagader war, dann war Wapping ganz gewiss dessen Herz.
An sechs Tagen der Woche brachte Kierans Kutsche Xanthia vom luxuriösen Berkeley Square den Strand und die Fleet Street entlang in diese andere Welt. Es war die der Arbeiter, der Mastenbauer und Fassbinder, der Kahnführer und Fährmänner. Der Ort, an dem schwarz gekleidete Zollbeamte mit tintenfleckigen Fingern sich neben Stadträten und Bankiers drängten. An dem die Großhändler des East Ends von ihren luxuriösen Stadthäusern am Wellclose Square heruntergeschlendert kamen, um zu beobachten, wie ihr Glück in die Hafenbecken segelte.
Entlang dieses Teils der Themse waren die Sprachen, die Läden und sogar die Kirchen ebenso englisch wie ausländisch. Die Schweden und Norweger stachen besonders hervor. Die Chinesen und die Afrikaner hatten fremd klingende Musik und exotische Nahrungsmittel eingeführt, und Franzosen und Italiener waren in Wapping genauso zu Hause wie in Cherbourg oder Genua. Es war ein wunderbarer Schmelztiegel der gesamten Menschheit.
Die Bürotür wurde geöffnet und ließ einen weiteren kühlen Luftzug in das Zimmer. Xanthia wandte sich vom Fenster ab und sah Gareth Lloyd, ihren Teilhaber, hereinkommen. Sofort ging er zu seinem Schreibtisch in der Ecke, um den grünen Ordner, den er mitgebracht hatte, dort abzulegen. »Die Belle Weather läuft ein«, sagte er. »Sie passiert gerade Limehouse Reach.«
Xanthia sah ihn überrascht an. »Was für eine unglaublich schnelle Fahrt!« Außerordentlich erfreut verließ sie ihren Platz am Fenster und trat an ihren eigenen Schreibtisch, um die Zeitpläne zu studieren. »Es ist doch alles glatt verlaufen? Ist schon jemand an Land gegangen?«
»Der Bootsmann. Er sagt, Captain Stretton habe eine zusätzliche Ladung Elfenbein auf der Fahrt um das Kap an Bord genommen.« Lloyd fuhr sich mit der Hand durch das dichte goldblonde Haar. »Unglücklicherweise sind wohl einige Zitrusfrüchte verdorben. Schwarzer Schimmelbefall. Ein Drittel soll verloren sein.«
Das war beklagenswert, kam aber nicht ganz unerwartet. Xanthia setzte sich auf ihren Stuhl und begann sich geistesabwesend die Arme zu reiben.
Lloyd ging zum Kamin und kniete sich hin. »Du frierst schon wieder.« Er sagte es, ohne sie anzusehen, und stocherte in den Kohlen herum. »Ich werde das Feuer anfachen.«
»Danke.«
Sie sah ihm schweigend zu. Als die Flammen wieder höher schlugen, trat Lloyd zu der großen Karte, die eine Wand des Büros fast ganz bedeckte, und betrachtete die blutroten Linien, in denen gelbe Nadeln steckten, von denen jede eines der Neville-Schiffe auf See darstellte. Die roten Linien waren ihre bevorzugten Handelsrouten. Lloyd hätte sie wahrscheinlich im Schlaf mit seiner Fingerspitze nachfahren können, so genau kannte er sie.
Gareth Lloyd war zu Neville Shipping gekommen, noch bevor ihr älterer Bruder vor zwölf Jahren gestorben war. Luke hatte ihn als Laufburschen für das Kontor eingestellt, aber Lloyd hatte schon bald großes Talent für Finanzen gezeigt, und die Westindischen Inseln wurden nicht gerade von fähigen Mitarbeitern überschwemmt. Jene, die die gefährliche Überfahrt riskierten, kamen auf die Inseln, um ihr eigenes Eisen zu schmieden, nicht das anderer. Und nur einige wenige von ihnen hatten Erfolg damit – wie zum Beispiel Kieran. Der Handel mit Zucker war ein lukratives Geschäft, oft sogar lukrativer als das Betreiben einer Schifffahrtslinie.
Gareth Lloyd jedoch hatte weiterhin schwer für Neville Shipping und somit im Dienste eines anderen gearbeitet. Nach Lukes Tod hatte sich die Reederei unter der Leitung einer Reihe von Geschäftsführern dahingequält, von denen jeder unehrlicher gewesen war als sein Vorgänger. Kieran hatte dem Geschäft, das ihr Bruder aufgebaut hatte, nie etwas abgewinnen können und sich stattdessen den Rücken auf den Plantagen und in den Mühlen krumm gearbeitet, die den Großteil des Familienvermögens sicherten. Xanthia hingegen hatte Luke regelmäßig und auf Schritt und Tritt begleitet, wenn er in das Büro der Reederei gegangen war. Für ihn war es die beste Lösung gewesen, um seine kleine Schwester zu beschäftigen und Schwierigkeiten zu vermeiden, da es keine weiblichen Verwandten gab, die auf sie hätten aufpassen können.
Xanthia wusste nicht mehr, wann genau sie aufgehört hatte im Büro zu spielen und ernsthaft begonnen hatte zu arbeiten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann einer der Männer zum ersten Mal mit
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