Entflammt
Menschen, ich natürlich auch. Wir verlieben uns in sie oder freunden uns mit ihnen an. Nachdem mein Soldat Robert in Indien gestorben war, hatte mich das unvermeidliche Ende davon abgehalten, einen neuen Versuch zu unternehmen. Und in meinem Freundeskreis neigten wir dazu, uns nicht zu lange mit Problemen oder schmerzhaften Ereignissen aufzuhalten - wir taten einfach so, als wären sie nicht da, und suchten uns etwas, das uns entweder ablenkte oder die Wahr,- nehmung trübte. Aus diesem Grund war ich nicht daran gewöhnt, dass mir jemand von seinem Schmerz erzählte, und wusste nichts Intelligentes oder Hilfreiches zu sagen. Das tut mir leid, war alles, was ich herausbrachte. Aber ich schätze, dass war sie längst gewöhnt.
»Noch mal danke«, sagte Meriwether und legte bei ihrem kleinen Auto den Rückwärtsgang ein.
»Gern geschehen. Bis dann.«
***
»Nastasja? Komm mit«, sagte Anne. »Meditationskurs. Dein erstes Mal in der Gruppe.«
Ich richtete mich auf und meine Wirbelsäule bog sich nach Stunden in gebückter Haltung nur langsam wieder gerade.Stundenlang hatte ich Walnüsse kniend vom Boden aufgesammelt. Zehn große Walnussbäume säumten den Hof und die Nüsse zu ernten war eine der Aufgaben im Herbst, die sich über Wochen hinzog. Es war eine mühsame Arbeit, von der man Rückenschmerzen kriegte, und da ich wieder einmal meine Handschuhe vergessen hatte, waren meine Finger von den Schalen braun verfärbt. Es würde Wochen dauern, bis das verblasste. Meine Jeans war nass und schlammig vom knien auf dem kalten Boden, mir lief ununterbrochen die Nase und ich war durchgefroren.
»Vom Regen in die Traufe«, murrte ich und Anne grinste. Bisher war Meditation für mich nichts anderes gewesen als der Zwang, eine Ewigkeit stillzusitzen, verbunden mit dem Vergnügen, den Horror vergangener Zeiten noch mal durchleben zu dürfen. Nein, danke. Letzte Woche hatte ich es allein gemacht, mit nur einem Lehrer, der mich angeleitet hatte. Und jetzt war es also Zeit für das volle Gruppenprogramm. Halleluja.
»Komm«, forderte sie mich auf und deutete aufs Haus. »Wenigstens wird dir da warm.«
Ich sah auf meinen Jutesack, der etwa dreiviertel voll war. Mit einem tiefen Seufzer rappelte ich mich auf und begleitete Anne ins Haus.
***
»Heute benutzen wir eine Kerze, die uns bei der Konzentration helfen soll«, sagte Anne zehn Minuten später beruhigend. Ich saß im Schneidersitz auf einem kleinen harten Kissen, das mit Buchweizen gefüllt war. Wir waren zu fünft und jeder hockte an einem Punkt eines mit Kreide auf den Boden gezeichneten Pentagramms. Da wir uns im Obergeschoss befanden, konnte ich durch das wellige Fensterglas den langsam dunkler werdenden Himmel sehen. Ich fragte mich, ob ich mich wohl in mein Zimmer davonschleichen konnte, sobald alle anderen weggetreten waren. Ich wollte das hier nicht machen. Ich wollte es vor allem nicht mit Lorenz und Charles machen, obwohl die beiden wirklich nett waren. Und schon gar nicht mit dem Dreamteam Nell und Reyn.
»Jetzt werden wir uns alle auf unsere Atmung konzentrieren«, sagte Anne mit tiefer, melodischer Stimme. Sie startete den CD-Player und es ertönte gedehnter, Enya-mäßiger Walgesang. »Konzentriert euch auf eure Atmung«, wiederholte sie vor demHintergrund der Musik. »Fühlt, wie die Luft in eure Lungen strömt und sie wieder verlässt. Ihr atmet Energie ein und atmet das aus, was ihr nicht mehr braucht.«
Kohlendioxid zum Beispiel.
»Wenn es euch hilft, zählt während des Einatmens bis vier und auch während des Ausatmens. Dann zählt beim nächstenAtemzug bis sechs und nehmt sechs Schläge, um eure Lunge vollständig zu füllen. Zählt auch beim Ausatmen wieder bis sechs. Wenn ihr wollt, könnt ihr die Augen schließen.« Ich machte sofort die Augen zu. Wenn ich Nells verkniffenes und Reyns versteinertes Gesicht nicht sehen musste, konnte ich vielleicht eine Weile vor mich hinträumen und meine neueste erotische Fantasie weiter ausschmücken, bei der es um Reyn, etwas Mandelöl und eine heiße Badewanne ging.
»Jetzt möchte ich, dass ihr einen Muskel nach dem anderen entspannt, angefangen bei den Zehen. Fühlt eure Zehen, spürt, wie sie sich entspannen. Jetzt die Knöchel. Und die Waden. Wenn dort irgendeine Anspannung ist, lasst sie los.« Annes Stimme klang verträumt und trieb auf der Musik dahin, die uns umwehte wie Holzrauch.
Meine Brust tat weh, ich hatte Bauchschmerzen
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