Entrissen
dass sie daran gedacht hatte, in der Delikatessenabteilung von Marks & Spencer anzurufen. Sie hatte geschmorte Lammkeule mit Gemüse bestellt. Das Gericht aufzuwärmen würde nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen. Und falls Graeme sich beschwerte, würde sie ihm eben sagen, er solle gefälligst selber kochen.
Zumindest hoffte sie, dass Graeme in vier Stunden daheim sein würde. In letzter Zeit kam er später und später. Überstunden, behauptete er. Um zusätzliches Geld zu verdienen, bevor das Baby auf die Welt kam. Das würden sie gut brauchen können, Babys seien ein teures Vergnügen, ob sie das etwa vergessen habe? Und wenn er dann nach Hause kam, war er schlecht gelaunt und reizbar. Die kleinste Kleinigkeit brachte ihn auf die Palme. Lust auf Sex hatte er auch keine mehr. Zugegeben, im Moment wäre sie ohnehin zu müde dafür gewesen, aber selbst in den ersten Monaten ihrer Schwangerschaft, die sie aufgrund der Hormonumstellung quasi in einem Zustand der Dauererregung verbracht hatte, hatte er sie immer abblitzen lassen. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wann sie zum letzten Mal miteinander geschlafen hatten: vor fast neun Monaten. Als das Baby gezeugt worden war. So etwas vergaß man nicht so leicht.
Die Kinder waren ihr auch keine Hilfe. Sobald sie aus der Schule heimkamen, verschwanden sie oben in ihren Zimmern, hockten sich vor den Computer, um im Internet zu surfen, oder sahen fern. Eigentlich hätte sie genauso gut allein leben können.
Bedrückt ließ sie sich wieder auf dem Barhocker nieder. Tja. Dies war nun ihr ach so vollkommenes Leben.
Vielleicht sollte sie ein Bad nehmen. Ein schönes, ausgiebiges Vollbad, um ihre verspannten Muskeln zu lockern. Aber das ging nicht, solange sie allein im Haus war. Was, wenn es an der Tür klingelte und sie nicht schnell genug aus der Wanne kam? Nein. Zu riskant. Stattdessen würde sie sich mit einer Dusche begnügen. Wieder einmal.
Sie schleppte sich die Treppe hinauf, eine Stufe nach der anderen, wobei sie sich schwer aufs Geländer stützte, ins Bad, wo sie die Dusche aufdrehte und sich langsam, Schicht für Schicht aus ihren Kleidern zu schälen begann.
Wenigstens brauche ich nichts zu tun, außer dazustehen,
dachte sie.
Bewegen muss ich mich nicht.
Sie trat unter den Wasserstrahl und schloss die Augen.
So stand sie da, bis ihre Beine anfingen zu schmerzen. Dann trocknete sie sich ab und ging ins Schlafzimmer, wo sie Pyjama und Bademantel anzog. Sie wollte sich bloß ein paar Minuten ausruhen. Ein kurzes Nickerchen auf dem Bett. Aber sobald sie die Augen geschlossen hatte, war sie tief und fest eingeschlafen.
Ihr letzter Gedanke, bevor der Schlaf sie übermannte: Es würde sich alles finden. Wenn das Baby erst einmal da war.
15
Chrissie Burrows war sehr bemüht, wusste aber nicht viel Aufschlussreiches über Claire Fielding zu berichten. Anni kannte das Verhalten. In Situationen wie dieser hatten die Leute oft das Gefühl, sie müssten alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu helfen, selbst wenn sie eigentlich nichts zu sagen hatten.
Chrissie Burrows war in den Dreißigern, rundlich und eine eher unscheinbare Frau, bis auf ihre Augen, die - unter anderen Umständen - eine lebenslustige Person verraten hätten.
Das leere Klassenzimmer, in dem Anni die Lehrerin vernahm, war heiß und stickig. Als hätte man die Heizung zu stark aufgedreht, um die Kinder durch die Wärme ruhigzustellen. Anni versuchte, die Hitze zu ignorieren, und machte sich daran, den genauen Ablauf der gestrigen Party zu rekonstruieren.
Chrissie Burrows saß da und verbrauchte ein Papiertaschentuch nach dem anderen. Sie betupfte sich damit die Augen, schnaubte sich die Nase und riss es dann mit zitternden Fingern in kleine Fetzchen. »Na ja, ich ... bin früh gegangen.«
»Um wie viel Uhr ungefähr?«
»So gegen neun. Spätestens halb zehn. Aber eher neun, würde ich sagen.«
»Gab es irgendeinen besonderen Grund dafür?«
Sie überlegte, schüttelte dann den Kopf. »Wir hatten eine Menge Spaß. Ich ... ich hatte Claire ihr Geschenk überreicht, ein paar Strampler ...« Sie zupfte ein weiteres Papiertuch aus der Schachtel. Anni wartete geduldig, bis der Tränenfluss zum Stillstand gekommen war.
»Und dann sind Sie nach Hause gegangen.«
Chrissie Burrows nickte. »Ich musste mich noch auf einige Schulstunden vorbereiten. Und ich hatte eine lange Heimfahrt, deswegen habe ich auch nur ein Glas getrunken ...«
»Und ist Ihnen jemand Verdächtiges aufgefallen,
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