Entrissen
gegen zehn, haben Sie da irgendjemanden Verdächtiges in der Nähe bemerkt?«
Er dachte schweigend nach.
»Entweder draußen vor dem Gebäude, auf der Straße oder sogar drinnen, im Treppenhaus. Irgendjemanden. Irgendwo.«
Er seufzte und ließ die Arme sinken. Alle Spannung wich aus seinem Körper »Ich habe mir den ganzen Tag darüber den Kopf zerbrochen. Immer und immer wieder. Habe versucht, mich zu erinnern ...«
»Und? War da irgendjemand?«
Er seufzte. »Nein. Niemand. Tut mir leid. Ich wünschte, da wäre jemand gewesen.«
»Ist schon gut. Und Julie Simpson war noch bei Claire, als Sie gegangen sind?«
Er nickte.
»Musste sie denn nicht auch nach Hause?« »Sie hat gesagt, sie wolle Claire noch beim Aufräumen helfen.«
Obgleich sie die Antwort auf ihre nächste Frage schon wusste, stellte Anni sie trotzdem, um zu überprüfen, ob die Aussagen der Kollegen übereinstimmten. »Und waren Sie der Erste, der gegangen ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Chrissie war die Erste. Sie hatte den weitesten Weg. Richtung Wivenhoe. Sie hat nur ganz wenig getrunken.« Er sah sie vielsagend an. »Wollte nicht riskieren, von der Polizei angehalten zu werden.«
Wieder lächelte Anni. »Das interessiert mich gar nicht. Ich versuche nur herauszufinden, wer Claire und Julie getötet hat.«
Er nickte, wie um zu signalisieren, dass er ihr glaubte. Dann meinte er: »Na ja, ich würde sagen, wir wissen ganz genau, wer es war, oder?«
»Tun wir das?« Anni beugte sich ein Stück vor. »Und wer wäre das, Mr Cooper?«
Geraint Cooper sah ihr direkt in die Augen. Anni wurde klar, dass er nicht vor Schock oder Nervosität zitterte, sondern vor Wut. »Das ist doch glasklar, oder nicht? Claires Ex. Ryan Brotherton, dieses Schwein. Er hat sie umgebracht.«
16
Hastig sah sich Clayton Thompson um. Niemand zu sehen. Niemand folgte ihm.
Er hatte vom Bahnhof den Weg die Headgate hinunter in Richtung Stadtzentrum eingeschlagen. Der Abend war hereingebrochen, die Läden waren im Begriff zu schließen, und gleichzeitig öffneten die Bars und Restaurants entlang der Headgate ihre Türen. Selbst an einem Wochentag fiel es Clayton schwer, ihrem Lockruf zu widerstehen.
Noch immer mochte er nichts lieber, als an einem freien Abend mit seinen Kollegen durch die Bars zu ziehen und Frauen aufzureißen. Selbst die ungezählten Samstagabende, an denen er, damals noch Streifenpolizist, für Ordnung hatte sorgen müssen, weil Soldaten aus der nahegelegenen Kaserne in Scharen in die Pubs im Stadtzentrum einfielen, um Studentinnen anzubaggern, und dabei nicht selten über die Stränge schlugen, hatten ihn nicht davon abgebracht. Im Gegenteil, er blickte geradezu wehmütig auf jene Zeit zurück. Damals hatte er sich bei der Arbeit noch richtig amüsiert: erst eine zünftige Prügelei und danach bekam man ein paar Drinks spendiert.
Aber es waren nicht immer nur die Soldaten, die auf leichte Beute lauerten. Clayton hatte genug ältere Frauen erlebt, die, nachdem sie sich den Ehering vom dicken Finger gefummelt und in Kleider für Teenager gezwängt hatten, von Bar zu Bar zogen in der Hoffnung, einen jungen, breitschultrigen Soldaten für die Nacht aufzugabeln. In seinen Tagen als Streifenpolizist hatte er mehr als eine Prügelei zwischen jungen Männern schlichten müssen, die kein Mädchen in ihrem eigenen Alter mehr abbekommen hatten und sich um die Reste stritten. Die Frauen selbst waren sogar stolz darauf, dass um sie gekämpft wurde und sie dem Sieger als Belohnung zufielen. Und wenn es ihnen nicht gelang, einen Soldaten aufzureißen, erinnerte er sich mit einem Lächeln, dann war ihnen ein Polizist allemal gut genug.
Doch so schön es auch gewesen wäre, irgendwo gemütlich auf einem Barhocker zu sitzen, ein paar Bierchen zu trinken und an nichts zu denken - es ging nicht. Es gab ein Problem, das dringend gelöst werden musste. Außerdem brauchte er Ruhe für das Telefonat, das er gleich führen würde.
Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer aus seinem Adressbuch. Es war eine Nummer, die er seit langer Zeit nicht mehr benutzt, aber trotzdem nicht gelöscht hatte. Irgendwann, hatte er gedacht, könnte sie ihm vielleicht noch einmal nützlich sein. Auf die eine oder andere Art.
Als er Phil gegenüber behauptet hatte, er wolle eine Spur verfolgen, hatte er gelogen. Nicht weil er Phil nicht mochte - er hatte einfach keine andere Wahl gehabt. Schadensbegrenzung war angesagt. Seine Karriere stand auf dem Spiel. Eine
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