ENTSEELT
Gefühl, seit er vor vierzehn Tagen aus dem Flugzeug gestiegen war. Er hatte gedacht, diese Empfindung sei in den fünfzehn Jahren, seit sein Arzt ihn nach Amerika gebracht hatte und ohne ihn zurückgekommen war, aus ihm herausgebrannt worden. Er wollte sie ausbrennen, diese Bitternis, die mit der Erkenntnis einherging, ein Waisenkind zu sein. In diesen ersten Jahren in Amerika hatte er Rumänien gehasst, und jedes Mal, wenn er an seine Wurzeln erinnert wurde, war er in schwere Depressionen verfallen. Das war wohl auch einer der Gründe, warum er jetzt zurückgekommen war. Er wollte den Nimbus dieses Landes abschütteln und endlich sagen können: »Sie hatten von diesem Land nichts zu erwarten – und ich auch nicht – ich bin entkommen!«
Er hatte eigentlich erwartet, dass die Gegend, das ganze Land, ihn bedrücken und die Bitterkeit zum letzten Mal wieder hochkommen werde und er danach davon befreit wäre. Er hatte geglaubt, er werde aus dem Flugzeug steigen, sich umsehen, mit den Achseln zucken und sagen: »Wer braucht das schon?«
Er hatte sich geirrt.
Wenn da Schmerz gewesen war, hatte der sich schnell verflüchtigt; statt sich fremd zu fühlen, war es, als hätte Rumänien ihn sofort mit Beschlag belegt und zu ihm gesagt: »Du bist ein Teil von mir. Du hast das Blut dieses uralten Landstrichs. Deine Wurzeln sind hier. Du kennst dieses Land, und das Land kennt dich!«
Vor allem hier auf diesen staubigen Straßen und Gassen im Schatten der Berge, auf diesen Pfaden und Waldwegen und Bergpässen, in diesen Tälern und Schluchten und unter den gewaltigen Massen himmelstürmender Felsen. Diese dunklen Wälder und aufragenden Bergfesten. Diese Orte lagen ihm im Blut. Wenn er lange genug lauschte, konnte er sie branden hören, wie die Wellen an einem fernen Strand, die ihn riefen. Irgendetwas war da, das ihn rief ...
»Erzähl es mir noch einmal«, sagte Gogosu und stieß ihn in die Rippen.
Vulpe fuhr zusammen und war wieder im Bus, abrupt aus seinen Tagträumen gerissen. Wenn es denn welche gewesen waren. »Was? Was soll ich erzählen?«
»Warum du hier bist. Was das hier alles soll. Ich meine, ich habe keine Ahnung, was dieses ganze Vampir-Zeugs zu bedeuten hat!«
»Nein«, sagte Vulpe und schüttelte den Kopf. »Deswegen sind die hier.« Er deutete mit dem Kopf nach hinten zu den beiden anderen. »Für mich ist das nur einer von vielen Gründen. Eigentlich ... na ja, ich glaube, ich wollte wissen, wo ich geboren worden bin. Ich meine, ich habe als Junge zwar in Craiova gelebt, aber das ist nicht das Gleiche wie hier im Schatten der Berge. Aber das hier ... Ich glaube, das ist das wahre Rumänien. Und jetzt habe ich es gesehen und bin zufrieden. Ich weiß, wie es hier ist und wo ich herkomme. Ich kann jetzt gehen und muss mir darüber keine Gedanken mehr machen.«
»Dann erzähl mir von dem anderen Grund, warum du hier bist«, insistierte Gogosu. »Diese Sache mit den verfallenen Schlössern und all das.«
Vulpe zuckte die Achseln, seufzte und versuchte zu erklären: »Es hat etwas mit Romantik zu tun. Das ist doch etwas, was du eigentlich verstehen solltest, Emil Gogosu. Gerade du! Ein Rumäne! Du bist ein romantisches Klischee in einem Land, das so voll Romantik steckt wie kein zweites. Ich meine nicht die Romantik zwischen Jungen und Mädchen – ich meine eher die Romantik des Geheimnisvollen, der Geschichte, der Mythen und Legenden. Dieses Schaudern im Inneren, wenn wir an unsere Geschichte denken, wenn wir uns fragen, wer wir sind und woher wir kommen. Das Mysterium der Sterne, Welten jenseits unserer Reichweite; Orte, die in unserer Vorstellung existieren die wir aber nicht benennen und heraufbeschwören können. Das gelingt nur durch alte Bücher oder durch Fetzen von verschimmelnden Landkarten. So wie du dich plötzlich an den Namen deines Schlosses erinnert hast.
Es ist die Romantik einer Legende, der man nachjagt, und es erfasst einen wie ein Fieber. Wissenschaftler reisen in den Himalaya, um den Yeti zu suchen, oder sie verfolgen Bigfoot durch die Wälder Nordamerikas. Ich weiß nicht, ob du von diesem See in Schottland gehört hast, wo jedes Jahr wieder Leute das Wasser mit Echoloten durchforschen auf der Suche nach Beweisen für die Existenz eines überlebenden Urzeitreptils.
Es ist die Faszination für ein Fossil, der Beweis, dass die Welt schon existierte und es Leben in ihr gab, bevor wir auf den Plan traten. Es ist diese Sucht im Menschen, den Dingen auf den Grund zu gehen, keinen Stein
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