ENTWEIHT
Vorteil, in die Zukunft blicken zu können; er hatte keinerlei Gefahr »vorhergesehen«, die sich aus dieser Aktion für ihn ergab. Doch wusste Goodly besser als jeder andere, dass die Zukunft ihre Tücken hatte, und es war ihm noch nie vergönnt gewesen, alles zu sehen. Ja, es war noch gar nicht so lange her, da hatte er sich glücklich geschätzt, überhaupt etwas zu sehen! Es war beinahe so, als hätte sein Talent Abstand von ihm genommen – was an sich bereits eine Warnung sein könnte, auf jeden Fall ein Umstand war, der nichts Gutes erahnen ließ ...
Alle paar Schritte blieb er stehen, um zu lauschen, ob sich unter ihm etwas rührte, und da er nichts hörte, stieg er über ächzende Holztreppen in den Keller des Palataki hinab. In dem spinnwebverhangenen Untergeschoss stieß er auf eine steinerne, aus der bröckelnden Felssohle gehauene Wendeltreppe, der er abwärts in die Finsternis folgte. Im Schein seiner Taschenlampe sah er im zentimeterhoch auf den Stufen liegenden Staub frische Fußabdrücke, Beweis dafür, dass auf diesem Weg häufig jemand unterwegs war. Was ihn wiederum an Chungs Warnung erinnerte, Vavara könne einen Aufpasser zurückgelassen haben, um nach dem Rechten zu sehen und sich um ihren abscheulichen Garten zu kümmern.
In einer Tiefe, die der Hellseher auf gut und gern fünfzehn Meter unter dem Keller des Palataki schätzte, war ihm, als höre oder vielmehr spüre er eine leise Bewegung – bloß ein Lufthauch, so als hätte sich in der Düsternis jenseits des Lichtkegels etwas gerührt. Goodly blieb stehen und fand sich auf ebenem Boden in einer niedrigen, von Menschenhand geschaffenen Kammer wieder. Die Decke wurde von verschimmelten Holzbalken getragen, und als Goodly sich einmal um seine eigene Achse drehte, stellte er fest, dass er sich in einem Gelass befand, von dem vier, alle gleichermaßen aus dem Fels gehauene Gänge abzweigten. Ein jeder von ihnen führte in einem Winkel von etwa dreißig Grad in die irgendwie lebendig wirkende Finsternis. Sie reichten bestimmt bis in die alte Minenanlage hinab. Darum war es mehr als wahrscheinlich, dass sie als Fluchtwege für die deutschen Grubenarbeiter und Geologen angelegt worden waren, die in dem flachen Labyrinth, das, der Schätzung des Lokalisierers zufolge, vermutlich fünfzehn Meter oder noch tiefer unter ihm lag, nach lohnenden Erzvorkommen gesucht hatten. Im Falle eines Erdbebens oder Einsturzes wären die eingeschlossenen Arbeiter von den meisten Stellen der Mine aus in der Lage gewesen, sich in diese Kammer zu flüchten und von da aus weiter hinauf in den Palataki. Aller Wahrscheinlichkeit nach war ein ähnliches System an David Chungs Ende des Gebäudes in Gebrauch gewesen. In diesem Fall benutzte Nephran Malinari also lediglich Schlupflöcher, die schon vor über siebzig Jahren verwendet worden waren …
Was wiederum bedeutete, dass es wahrscheinlich noch weitere Ein- und Ausgänge gab ...
Weitere Fluchtwege? Für Malinari?
Doch es war keine Zeit, bei diesen Dingen zu verweilen, denn mit einem Mal ertappte der Hellseher sich dabei, dass er vor Angst schlotterte.
Zu seinen Füßen gähnte eine weitere Treppe, deren steinerne Stufen sich in den salpeterüberzogenen Fels hinunterwanden. Der lotrechte Schacht war für Goodlys Absicht ideal. Darum bis hierher und keinen Schritt weiter! Die Taschenlampe in die rechte Schulterklappe geklemmt, zog er ein Einwegfeuerzeug und eine Stange Dynamit aus einer tiefen Seitentasche seiner Safari-Jacke. Seine Hand begann zu zittern, während er mit dem Daumen das Rädchen drehte, um einen Funken zu erzeugen ...
… und zitterte heftiger, als nichts geschah. Bloß ein Aussetzer, mehr nicht! Er war gerade im Begriff, es ein zweites Mal zu versuchen, da spürte er erneut einen Luftzug. Er wagte kaum zu atmen. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Er drehte sich einmal um sich selbst, richtete den Strahl seiner Lampe nacheinander in jeden der vier Gänge … und im letzten sah er eine wabernde, knietiefe Nebelwand, die sich in seine Richtung ausbreitete!
Oben, auf dem Außengelände des Palataki, waren die Dunstschwaden nicht weiter aufgefallen. Hier unten jedoch war dies etwas völlig anderes. Und der dunkle Schatten, der sich daraus erhob und auf ihn zuglitt, ebenfalls!
Malinari!, dachte er wie erstarrt. Es ist Malinari!
Jaaa!, zischte eine Stimme in seinem Kopf. Lord Nephran Malinari, Mister Goodly, sogenannter Hellseher. Ah, aber das hier hast du nicht vorhergesehen, was? Oh,
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