ePub: Drachenhaut (German Edition)
»Die Drachen«, wiederholte eine tiefere Stimme. Der Ruf pflanzte sich wie ein Siegesgesang durch die Karawane fort. Lilya, die immer noch in den Himmel blickte, obwohl ihre Augen von der klaren Helligkeit zu tränen begannen, flüsterte leise: »Die Drachen.«
Sie hatte mit allem Möglichen gerechnet, was sie an ihrem Ziel erwarten könnte: eine trutzige Burg, deren Mauern hoch oben im Gebirge aus dem Felsen gehauen worden waren, oder eine Stadt, die sich in einem schützenden Tal am Fuß der Berge verbarg. Natürlich hatte sie Tedus und Gwasila darüber ausgefragt, aber die Antworten, die sie bekommen hatte, waren unbefriedigend gewesen und hatten kein Bild in ihrem Kopf entstehen lassen, ihre Erwartung und Aufregung allerdings ins Unermessliche gesteigert.
Deshalb war sie ein wenig enttäuscht, als die Karawane am Ende des Tages vor einer ganz normalen Stadtmauer anhielt und auf den Ruf des Karawanenführers zwei vollkommen unspektakuläre Torflügel aufschwangen und den Blick auf eine ganz gewöhnliche Straße und schmucklose Häuser freigaben.
Gwasila fing ihren enttäuschten Blick auf und lächelte sein sparsames Lächeln. »Willkommen im Drachennest«, sagte er. »Warte ab, Lilya Banu. Es wird dir gefallen.«
Während sie sich dem Zentrum der Ortschaft näherten, begegneten ihnen nur eine Handvoll Menschen, die über der Tracht der Wüstenleute noch warme Jacken und Umhänge trugen, Schultertücher und wollene Beinlinge. Lilya zog ihre Decke, die sie auch während des Rittes um die Schultern geschlagenhatte, unwillkürlich enger. Es war kalt im Schatten des Gipfels, und der Wind, der durch die leeren Straßen pfiff, trug den Geschmack des Winters mit sich.
»Wo sind all die Menschen, die hier leben?«, fragte sie Gwasila.
Er sah fragend zu ihr auf. »Wir leben hier«, sagte er. »Und alle, die noch nach uns kommen. Wir sind früher als sonst abgereist, deshalb sieht das Drachennest so geisterhaft und unbewohnt aus.«
Lilya verstand jetzt erst, was Tedus ihr schon vor Tagen zu erklären versucht hatte. »Dies hier ist nur ein Zufluchtsort, wie das Dorf, in dem wir die Alten gelassen haben?!«
Gwasila nickte. »Nur ein Zufluchtsort. Und der Wohnsitz des Drachen.«
Lilya beschäftigte noch etwas anderes. »Nur, weil der Shâya mit seiner Jagdgesellschaft ein paar Tage unterwegs ist, fliehen ganze Dörfer hierher? Eine Reise von zwei Wochen und noch mehr nur deshalb? Das ist verrückt. Wäre es nicht einfacher, herauszufinden, in welchem Gebiet er jagen will, und diese Dörfer dann dort unterzubringen, wo die Jagd in diesem Jahr nicht stattfindet?«
Gwasilas Miene verschattete sich. »Es ist nicht nur der Shâya«, erwiderte er. »Du hast recht, einer einzelnen Jagdgesellschaft könnte man leicht aus dem Weg gehen.« Seine Lippen wurden schmal, und Lilya erschrak vor dem Zorn, der aus seinem Gesicht sprach. »Die Sklavenjäger sind ebenfalls um diese Zeit unterwegs«, erklärte er. »Früher im Jahr erscheinen ihnen die Hitze und der Wassermangel zu gefährlich für eine solche Expedition, aber wenn der Herbst anbricht und dann den ganzen Winter hindurch ist kein Fleck in der Wüste vor ihnen sicher. Die Zuflucht der Alten ist auch den Jägern bekannt ‒ aber Gebrechliche und Kranke sind kein gutes Sklavenmaterial.«
Lilya schnappte nach Luft. »Die jungen Männer«, sagte sie. »Die Mütter mit ihren Kindern!«
Gwasila nickte ernst. »Sie wissen, was sie zu tun haben, wenn die Jäger kommen.«
Lilya schüttelte den Kopf. »Aber wenn die Freien sich hierher flüchten, machen die Sklavenjäger doch keine Beute mehr. Woher kommt dann der Nachschub, der jedes Jahr auf den Sklavenmärkten angeboten wird?« Sie hatte Mühe, das auszusprechen. Früher wäre es ihr gar nicht aufgefallen, dass sie über Menschen sprach, die verkauft wurden, damit sie als Sklaven für andere Menschen arbeiteten. Sklaven, die mit Gewalt von ihren Familien getrennt und in die Fremde gebracht worden waren. Menschen wie Yani und Ajja ‒ und Aspantaman, obwohl der gar kein Wüstenmann war.
Gwasila hob die Schultern. »Es gibt immer wieder Dörfer, die nicht gehen wollen. Die glauben, dass es übertrieben ist, sich vor den Sklavenjägern in Sicherheit zu bringen. Und wenn wir anderen dann im Frühjahr zurückkehren, finden wir nur noch die abgebrannten Hütten und die Überreste der Toten. Manchmal gelingt es einem Dorf zu überleben ‒ aber das ist Zufall. Es wäre besser, wenn dem nicht so wäre, weil sich dann auch niemand
Weitere Kostenlose Bücher