Erben der Macht
Die Büsche auf dem Hügel oberhalb des Tores, hinter denen sie ihren Beobachungsposten eingerichtet hatten, verbargen sie zwar im Moment vor den Augen der Feinde, aber dieser Vorteil würde nicht lange dauern. Für das Ritual mussten sie ein Feuer entzünden und heilige Kräuter verbrennen. Der Rauch würde unten sichtbar sein. Außerdem stand der Wind ungünstig, sodass das Feuer zu riechen wäre, lange bevor die ersten Kräuter in den Flammen verbrannten. Wie das Ganze ausging, war nicht vorherzusehen.
Mondwolf und die Schamanen zogen sich noch ein größeres Stück von der Hügelkante zurück und begannen mit ihren Vorbereitungen. Die Krieger beobachteten weiter die Feinde. Ihre Aufgabe war es nicht nur, die Schamanen zu beschützen, sondern dafür zu sorgen, dass sie das Ritual ungestört zu Ende bringen konnten. Mit anderen Worten, sie mussten verhindern, dass der unvermeidliche Kampf auf den Hügel getragen wurde. Sich nicht ablenken zu lassen, war das Wichtigste und Schwierigste. Das war ihnen allen bewusst. Ebenso, dass Eile geboten war.
Bärenbruder, der Anführer der Krieger, kam gelaufen, als das heilige Feuer entzündet wurde. „Die Feinde haben mit ihrem Ritual begonnen“, meldete er. „Euch bleibt nicht mehr viel Zeit.“ Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern kehrte wieder auf seinen Posten zurück.
Mondwolf blickte die anderen Schamanen entsetzt an. Der Moment, wenn die Sonne sich wendete und an dem das Ritual durchgeführt werden musste, war noch nicht gekommen. Hatte der Wissenshüter-Kayápu ihn doch belogen? Egal. Sie würden tun, was getan werden musste.
Mondwolf und seine Gefährten begannen mit ihrem Ritual. Kaum konzentrierte er sich auf die Macht, die er von dem Ort ausstrahlen spürte, an dem sich das Tor befand, fühlte er, wie sie gestärkt wurde, als die Feinde das Blut eines soeben geopferten Menschen einsetzten. Er verband seine Zauberkraft mit der seiner Helfer und begann mit dem heiligen Gesang, der ihnen gemeinsam von den guten Geistern in Visionssuchen geschenkt worden war und der die Bedingungen festlegte, die das Tor geschlossen halten würden.
Eine magische Gewalt stemmte sich ihnen entgegen, als das Tor aufschwang und die ersten kayápu die Welt betraten. Weder Mondwolf noch seine Helfer erlaubten sich den Gedanken, dass sie versagt hätten. Noch war es nicht zu spät. Bärenbruder und seine Krieger wussten, was sie zu tun hatten, sollte das Tor geöffnet werden. Wahrscheinlich würden sie das ebenso wenig überleben wie die Schamanen, aber es kam nur darauf an, dass sie ihnen die erforderliche Zeit verschafften, um das Ritual zu beenden und das Tor mit dem Zauber zu belegen.
Der Gesang nahm die Macht der Schamanen auf. Mondwolf fühlte, wie sie sich manifestierte und sich auf das Tor zu legen begann – damit begann, dessen magische Struktur zu verändern. Er spürte, wie es sich langsam wieder schloss, obwohl seine Struktur dagegen ankämpfte, als wäre es ein lebendiges Wesen.
Blitze zuckten auf, fuhren zischend in den Schnee, den Hügel, die Bäume. Spalteten sie, setzten sie in Brand, schlugen in die Erde ein und in das Eis auf dem Wasser des Langen Großen Sees, das bis auf den Hügel hörbar zischend verdampfte. Gewaltige Donner rollten durch die Luft, die Mondwolfs Körper zum Vibrieren brachten. Die Luft knisterte von Magie.
Ein gewaltiges Krachen ertönte vom Tor, dem ein Kreischen folgte, das so grauenhaft klang, dass Mondwolf Mühe hatte, den magischen Gesang weiterzusingen und nicht aus dem Takt zu geraten. Aber die guten Geister waren mit ihm. Er spürte ihre Nähe. Sie gaben ihm Kraft. In dem Moment, als er glaubte, dass er erschöpft zusammenbrechen würde, erfüllte ihn neue Stärke. Und nicht nur ihn. Noch wenige Herzschläge, dann wäre es vollbracht. Noch eine letzte Wiederholung des Gesangs, dann wäre es vollbracht.
Mondwolf fühlte, wie sich seine Macht mit der Magie des Tores zu verweben begann. Als griffen unsichtbare Hände in ihn herein und rissen sie aus ihm hinaus. Seine Zauberkraft wurde ihm vollständig entzogen, als würde ein gefräßiges Tier sie verschlingen. Für einen Moment fühlte er sich leer und machtlos. Dann kamen die Schmerzen, denn der Sog hörte nicht auf. Mondwolf fühlte, wie auch seine Lebenskraft angegriffen wurde in einer Weise, als saugte jemand das Blut aus ihm heraus. Mondwolf brach in die Knie und fiel auf die Seite. Trotz der zunehmenden Schwäche gab er dem Zauber alles, was er an Kraft noch aufbieten
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