Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
wie sie wollte, in diesem Punkt hatte Edmund recht. Sie hatte nichts mehr von Gordon gehört, und nun wusste sie, dass sie nie wieder etwas von ihm hören würde.
Edmund las ihre Gedanken und lächelte: »Da haben Sie den Beweis. Er war Ihrer nicht wert.«
Aus der Ferne drang das Schlagen von Metalltüren zu ihnen. Der schwach beleuchtete Korridor schien kälter als gewöhnlich zu sein. Zitternd zog sie ihre Jacke noch fester um die Schultern. Sonntagabend stieß sie die Tür zu ihrem Atelier auf. Es schlug ihr ein harziger Duft von Holz, das der Sommerhitze ausgesetzt gewesen war, gemischt mit den Gerüchen ihrer Ölfarben und Lösungsmittel entgegen. Mit Unterbrechungen hatte sie das ganze Wochenende über ihr Gemälde nachgedacht, während sie überfällige Rechnungen herausgesucht und das Haus geputzt hatte. Doch sie war zu unruhig gewesen, um mit dem Malen zu beginnen. Als sie nun endlich im Atelier stand, war es zu spät, um noch anzufangen. Es war bereits nach Mitternacht, und am Morgen warteten viele Patienten auf sie.
Sie beschloss, vor dem Zubettgehen dennoch einen Augenblick vor der Leinwand zu verbringen, um sich darüber klar zu werden, ob sich ihr Format für das Bild eignete, das ihr im Kopf herumspukte. Sie schaltete das Licht an. Das Atelier wirkte verlassen, aber die Leinwand schien auf sie zu warten. Wenige Minuten später nahm sie ein Stück Kohle und zog ein paar Linien auf der grundierten Fläche, um die Komposition zu testen. Sie zeichnete spielerisch, und ihre Anspannung ließ etwas nach. Ihre Hand zögerte nicht, sie schien unabhängig von ihr zu arbeiten, in Harmonie mit ihrem Unbewussten. Eine halbe Stunde später war die Skizze fertig. Sie hatte nichts weiter getan, als dem Bild in ihrem Kopf zu folgen.
Sie besprühte die Zeichnung mit Fixierflüssigkeit und wollte gerade gehen, aber aus einer Laune heraus drückte sie einen Klecks Siena auf eine Plastikpalette, goss ein wenig Lösungsmittel in einen Eierbecher und nahm einen flachen, fünf Zentimeter breiten Pinsel, um mit dünner Farbe Vordergrund und Hintergrund, Licht und Schatten anzudeuten. Sie malte zügig, denn sie war sich dessen bewusst, dass es spät war und die Stunden rasten, wenn sie in die Arbeit vertieft war. Kein Laut war zu hören. Die Prior Park Road lag still und verlassen; man vernahm noch nicht einmal ein fernes Rumpeln von der Claverton Street. Nach einer Weile sah sie wieder auf die Uhr. Es war schon nach zwei, doch sie hörte ungern auf, wenn sie erst einmal im Fluss war. Zudem war es eine Erleichterung, einfach nur zu malen. Ständig plagte sie die unterschwellige Angst, die Inspiration würde sie verlassen, und sie müsste eines Tages feststellen, dass es für sie nichts mehr zu malen gab. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie nur Ameisen malte, ihre »Übergangsobjekte«. Eigentlich war es lachhaft. Eine Psychotherapeutin, die nicht erwachsen werden wollte und ständig auf der Flucht war. Erst vor einer merkwürdigen Kindheit, dann vor ihrer Verantwortung, dann vor der Wahrheit über sich selbst. Wer hatte das gesagt: »Es gibt Leute, die man durch das definieren kann, wovor sie weglaufen, und es gibt Leute, die sich dadurch definieren lassen, dass sie ständig weglaufen.«
Sie drückte etwas Zinnober und gebranntes Ocker auf die Palette, hielt einen Moment inne und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Was sie sah, erstaunte sie. Sie hatte keinen Mann, sondern eine Frau gemalt. Die Brüste und auch das Schamdreieck waren klar erkennbar. Sie hatte einen Mann darstellen wollen, eindeutig einen Mann, denn nur mit Männern – feindlichen Kriegern – machte man das.
Sie hatte vor vielen Jahren davon gelesen, in einem obskuren Ameisenbuch. Ein südamerikanischer Stamm bediente sich für gefangene Feinde und zuweilen auch für Stammesmitglieder, die sich scheußlicher Verbrechen schuldig gemacht hatten, einer ausgeklügelten Folter, die beinahe immer zum Tod führte. Das Opfer wurde an eine Stelle im Wald geführt, wo eine bestimmte Art fleischfressender Ameisen lebte. Man säuberte den Boden um den Bau, entkleidete den Gefangenen und band ihn mit ausgestreckten Armen und gegrätschten Beinen auf einen Holzrahmen. In den Mund schob man ihm ein für diesen Zweck bearbeitetes Holzstück, in seinen Anus und Penis steckte man ein ausgehöhltes Bambusrohr. Diese Körperöffnungen füllte man mit dem zähflüssigen süßen Saft eines einheimischen Baumes. Auch in Ohren und Augen wurde er
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