Erdbeermond: Roman (German Edition)
undurchschaubar. Die Menschen lieben und fürchten sie. Sie ist ein Original – furchtlos, undiplomatisch, absichtlich widerborstig. Als sie zum Beispiel ihr Detektivbüro einrichtete (Lucky Star Investigations), hätte sie ein Büro in einem schönen Bürohaus in der Dawson Street mit einem Pförtner und einer Empfangsdame haben können, aber sie nahm sich ein Büro in einer Gegend mit graffitiverschmierten Wohnblocks, wo die Geschäfte andauernd verriegelt sind und gefährlich aussehende Jungs in Kapuzenjacken auf Fahrrädern herumfahren und kleine weiße Päckchen ausliefern.
Es ist unglaublich öde und deprimierend, aber Helen gefällt es sehr gut da.
Obwohl ich sie nicht verstehe, ist Helen wie mein Zwilling, mein dunkler Zwilling. Sie ist die schamlose, unerschrockene Version von mir. Und obwohl sie sich immer über mich lustig macht (ich nehme es nicht persönlich, sie macht es mit allen), ist sie loyal und würde sich für mich schlagen.
Alle meine Schwestern sind loyal und würden sich für die anderen schlagen, und obwohl sie es in Ordnung finden, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen, würden sie sich mit jedem anlegen, der es mit einer von uns versucht.
Ja, gut, früher haben sie gesagt, ich würde bei den Feen leben und »die Erde ruft, Anna«, und so weiter, aber ehrlich gesagt, gab es ja auch Gründe: Es war klar, dass ich mit der Wirklichkeit nicht so viel anfangen konnte. Warum sollte ich, es schien mir nicht besonders angenehm da. Jede Möglichkeit zur Flucht, die sich bot, ergriff ich – lesen, schlafen, sich verlieben, Häuser in meinem Kopf entwerfen, wo ich mein eigenes Zimmer hatte und nicht eins mit Helen teilen musste –, und ich war nicht besonders praktisch.
Und dann die Sache mit den Fransenröcken.
Es ist mir jetzt peinlich, das zuzugeben, aber als Teenager fing ich damit an, lange Hippieröcke mit Fransen zu tragen, und manche hatten sogar – schrecklich – kleine Spiegel eingenäht. Warum, warum nur? Ich war jung, ich war dumm, aber wirklich. Ich weiß, dass wir alle unsere jugendlichen Modesünden haben, jeder hat sein mies gekleidetes Skelett im Wandschrank, aber meine Zeit in der Modewüste dauerte fast ein ganzes Jahrzehnt.
Außerdem hörte ich auf, zum Friseur zu gehen, als ich fünfzehn war, nachdem man mir einen Cyndi-Lauper-Haarschnitt verpasst hatte. (Es waren die achtziger Jahre, ich kann niemanden dafür verantwortlich machen, sie wussten es nicht besser.) Doch die Spiegelfransenröcke und das wilde Haar waren lediglich Bagatellen verglichen mit den Schockwellen, die von der Geschichte mit den Visitenkarten ausgelöst wurde …
Die Geschichte mit den Visitenkarten
Wer die Geschichte noch nicht kennt, wahrscheinlich kennt sie jeder, aber – hier ist sie. Nachdem ich von der Schule abgegangen war, hat Dad mir einen Job in einem Baubüro verschafft – jemand schuldete ihm einen Gefallen, und es herrschte die einhellige Meinung, dass es ein ziemlich großer Gefallen war.
Jedenfalls, ich arbeite also in dem Büro und bin freundlich zu den Bauarbeitern, die reinkommen und sich Geld geben lassen, und eines Tages wirft Mr. Sheridan, der Boss, einen Scheck auf den Tisch und sagt: »Schick den an Bill Prescott, mit einem Complimentary Slip.«
Zu meiner Verteidigung kann ich sagen, dass ich neunzehn war und keine Ahnung von der Geschäftssprache hatte, und zum Glück wurde der Umschlag mit dem Scheck abgefangen, bevor er in die ausgehende Post gelangte mit einer Visitenkarte, auf der ich geschrieben hatte: »Lieber Mr. Prescott, obwohl ich Sie nicht kenne, höre ich überall, dass Sie ein netter Mann sind. Alle Bauarbeiter sprechen sehr wohlwollend von Ihnen.«
Woher sollte ich wissen, dass es nicht bedeutete, Komplimente zu machen, wenn man einen Complimentary Slip verschickte? Das hatte mir niemand erklärt, und ich konnte keine Gedanken lesen, obwohl ich wünschte, ich könnte es. Es war ein Fehler, den jeder, der nicht eingeweiht war, machen konnte, aber es wurde zu einem richtungsweisenden Ereignis, erhielt unter den Familienlegenden einen Ehrenplatz und bestätigte das Bild, das alle von mir hatten: Ich war eine totale Niete. Sie meinten das nicht unfreundlich, aber natürlich war es nicht leicht.
Wie auch immer, alles wurde anders, als ich Shane, meinen Seelenverwandten, kennen lernte. (Es war schon sehr lange her, so lange, dass ich so etwas sagen konnte, ohne dass man über mich herfiel.) Shane und ich waren so entzückt voneinander, weil wir genau
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