Erdbeermond: Roman (German Edition)
Mist, dachte ich, jetzt sterbe ich also wirklich.
Mein Leben zog nicht in der zeitlich richtigen Reihenfolge an mir vorbei, stattdessen waren es unzusammenhängende Bilder, die auftauchten, Dinge, an die ich seit Jahren nicht gedacht hatte, wenn überhaupt jemals. Meine Mutter hatte mich zur Welt gebracht, das war sehr freundlich von ihr. Eine großzügige Tat. Dann erschien Shane vor meinem geistigen Auge: Mit ihm war ich viel zu lange zusammen gewesen.
Warum musste ich sterben? Na ja, warum eigentlich nicht? Es gab sechs Milliarden Menschen auf der Welt, und ich war so unbedeutend wie alle anderen auch. Überall wurde gestorben, warum also sollte ich nicht sterben? Obwohl es eigentlich schade war, denn wenn ich mein unbedeutendes Leben noch eine Weile weiterführen könnte, würde ich …
Als ich dachte, dass mein Kopf jetzt wirklich platzen würde, stieß ich durch die blaue Linie, die die beiden Welten trennt. Der Lärm und das grelle Licht trafen mich hart. Eine Welle schwappte mir ans Ohr, und ich riss mir die Maske vom Gesicht, atmete tief den köstlichen Sauerstoff ein und wunderte mich, dass ich nicht tot war.
Ich merkte erst wieder etwas, als ich an Deck lag, immer noch heftig nach Luft japsend, und Aidan sich über mich beugte. Sein Gesicht drückte Entsetzen und Erleichterung zugleich aus. Ich nahm alle meine Kraft zusammen und brachte ein paar Worte hervor. »Meinetwegen«, keuchte ich. »Ich heirate dich.«
DREIUNDZWANZIG
Es war dunkel, und ich schreckte aus dem Schlaf hoch, mein Herz schlug schnell und hart. Das Licht war schon an, bevor ich wusste, dass ich es angeschaltet hatte, und ich war vollkommen wach, alle meine Sinne waren aufs Äußerste gespannt. Ich lag auf dem Sofa, ich war dort in meiner Bürokleidung eingenickt, weil ich den Moment, da ich allein ins Bett musste, immer hinauszögerte.
Irgendwas hatte mich geweckt. Was hatte ich nur gehört? Das Drehen eines Schlüssels in der Tür? Oder war die Wohnungstür auf- und zugemacht worden? Ich wusste nur, dass ich nicht allein war. Man weiß sofort, wenn jemand anders in der Nähe ist, alles fühlt sich anders an.
Es konnte nur Aidan sein. Er war zurück. Und obwohl ich erfreut war, war ich gleichzeitig furchtbar aufgeregt. Aus dem Augenwinkel, beim Fenster drüben, sah ich, wie sich etwas bewegte, schattenhaft. Ich riss den Kopf herum, aber da war nichts.
Ich stand auf. Es war niemand im Wohnzimmer, niemand in der Küchennische, ich musste also im Schlafzimmer nachsehen. Ich stieß die Tür auf, der Schweiß brach mir aus allen Poren. Ich tastete nach dem Lichtschalter, starr vor Angst, dass im Dunkeln eine Hand nach meiner greifen könnte. Was war das für ein schmales hohes Etwas beim Schrank da drüben? Ich drückte auf den Schalter, das Zimmer war plötzlich strahlend hell, und die bedrohliche Gestalt war nichts weiter als unser Bücherregal.
Ich hörte meinen eigenen keuchenden Atem, machte das Badezimmerlicht an und zog den mit Wellen bedruckten Duschvorhang mit einem heftigen Ruck zurück. Auch niemand.
Was hatte mich dann geweckt?
Ich konnte ihn riechen, merkte ich. Das kleine Bad war von seinem Geruch erfüllt. Wieder spürte ich Panik, und mein Blick flog umher – was suchte ich? Ich hatte Angst, in den Spiegel zu gucken, ich hielt es für möglich, dass jemand anders mir daraus entgegenblicken würde. Erst dann bemerkte ich, dass sein Waschbeutel von der überfüllten Ablage auf den gekachelten Fußboden gerutscht war. Ein paar Sachen waren rausgefallen, und irgendwas war zerbrochen. Mühsam ging ich in die Hocke. Es war nicht Aidan, es war sein Rasierwasser, das ich riechen konnte.
Nun gut. Und wie war der Waschbeutel runtergefallen? Die Wohnhäuser waren alt und schief und krumm; wenn irgendwo eine Wohnungstür zugeschlagen wurde, konnte das Vibrationen durchs Haus schicken, die dazu führten, dass in einer anderen Wohnung ein überhängender Waschbeutel auf den Boden fiel. Das war nicht geheimnisvoll.
Ich ging in die Küchennische, um Kehrichtschaufel und Handfeger zu holen, und dort war schon wieder ein fremder Geruch, ein süßer, pudriger, beklemmender Geruch. Nervös schnüffelte ich herum. Irgendwelche frischen Blumen. Ich kannte den Geruch, ich konnte ihn bloß nicht … plötzlich wusste ich es. Lilien, ein Geruch, der mir zuwider war – so schwer und muffig, wie der Tod.
Ich sah mich ängstlich um. Woher kam er? In der Wohnung waren keine frischen Blumen, doch der Geruch war unabweisbar da. Ich bildete
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