Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
prüft mich aber mit seinem Blick sehr genau. Er ist wach, nüchtern, immer in der Welt. Am Strand atme ich durch. Die Nacht ist tiefschwarz, aber das Mondlicht glitzert auf den sanften Wellen der Ostsee. Ich ziehe die Schuhe aus und gehe barfuß an der Brandung entlang.
Warum frage ich Khaled nicht, wer er ist? Was er tut? »Gute Geschäfte«, das kann doch alles bedeuten. Er könnte Waffenhändler sein oder Söldnervermittler. Woher stammt er? Hat er eine Frau? Kinder? Ich weiß im Grunde nichts über ihn. Ich googele ihn nicht mal. Ich schätze, trotz seiner zehntausend Kontakte im Telefon würde ich im Netz nichts über ihn finden. Vielleicht will ich auch gar nichts wissen, weil ich mich in seiner Gegenwart das erste Mal im Leben nicht so fühle, als trüge ich die Nummer 10 auf dem Trikot und müsse das Spiel leiten. In Khaleds Gegenwart darf ich endlich mal die 7 sein oder die 2. Ein Mitspieler, der den Ball bedient, wenn er ihn bekommt, aber grundsätzlich abwarten darf, was geschieht. Außerdem mag ich seine Maulfaulheit. Er sagt nichts, wenn er nicht muss, schon gar nicht über sich selbst, und ich genieße das. Was für eine Flut von Geschwätz ich in den paar Wochen über mich ergehen lassen musste, in denen ich Texter bei der Berliner Werbeagentur war. Khaled ist groß und hat Haltung, aber diese ganzen kleinen Marketingmännchen waren flirrende Schemen aus Geplapper und Daten, die ungefragt Meldungen ausschwitzten; laufende Gitternetze, durch die man hindurchgreifen konnte wie durch heiße Luft. Ihre Sätze waren endlos, und nur schlecht als Kumpeleien getarnte Selbstdarstellungen flatterten wie Kolibris um sie herum, während sie redeten und redeten und erst aufhörten, wenn man ihnen klarmachte, dass man den »Gefällt mir«-Knopf längst gedrückt hatte und sie nicht länger nach der falschen Liebe heischen mussten. Khaled, der dort hinten leise Karten klopft und Gläser klingen lässt, ist alles, was sie nicht sind.
Ich bleibe stehen und schaue mir das Meer an. Ich denke an Susanne. Ihre traurigen braunen Augen, als wir uns getrennt haben. Ihre glücklichen Augen, früher, in Bochum. Ich sehe sie im Baumarkt in ihrer Tarnkluft mit Firmenlogo, wie sie sich als Fachfrau ausgibt, die schweren Stiefel an den Füßen. Ich küsse ihr Handgelenk. Der Mond steht über dem Wasser. Eichendorffs Gedicht fällt mir ein, ich kann nichts dagegen machen, es läuft in meinem Kopf ab wie die Namen eines Filmvorspanns: »Es war, als hätt der Himmel/die Erde still geküßt.« Ich schlucke. Der Pfropf in meiner Brust löst sich wieder, wie ein eingefrorener Stein an einem abtauenden Steilhang. Es ist schön, hier zu stehen, in Mond und Rauschen. Es ist sogar schön, an romantische Dichtung zu denken. An Reclamhefte. Da stand sie drin, die »Lyrik der Romantik«, damals im Proseminar im Kellergeschoss der Universität, angesetzt von des Dozenten klugem Kopf von 18 bis 20 Uhr, weil um diese Zeit nur kam, wer wirklich die Literatur liebte. Das Reclamheft, bleistiftzerschunden. Wir zerlegten die Romantik wie Chirurgen, ohne sie dabei zu zerstören. Im Gegenteil. »Und meine Seele spannte/weit ihre Flügel aus/flog durch die stillen Lande/als flöge sie nach Haus.« Der Mond steht still und ewig. In meiner Hand spüre ich den Bleistiftstummel, den ich damals aus Prinzip bis zur letzten Holzfaser aufbrauchte, und der Duft des Salzwassers mischt sich mit dem des Bodenreinigers der Universitätsputzfrauen, die vor der Tür des Abendseminars bereits zu wischen begannen. Einmal, zweimal bumpert der Aufnehmer vor die Tür, da fällt hier in Litauen der Pfropf aus meiner Brust in den Sand. Ich stürze nach unten und fächere die winzigen Körner durch. Ja, Mond, um das Meer zu erleuchten, reicht deine beschissene Kraft, aber nicht, um den Pfropf wiederzufinden! Der Sand fühlt sich auch noch gut an in meinen Händen, und mit jeder Sekunde dieses Gefühls verschwindet der Pfropf tiefer im Boden. Ich stehe auf, schüttele die Hände aus und renne fort von diesem verfluchten Ort, an dem Reclamromantik mir die Beklemmung klaut, durch den Dünenweg, vorbei an den Tischen, es sind nun schon mehrere, rauf aufs Zimmer. Schlüssel rum, Vorhang zu und rein in das alte, knarrende Bett, das Herz rasend. Ich reiße alle Decken und Laken zu mir und wühle so lange in ihnen herum, bis ich den Pfropf wiederfinde. Aus den Tiefen des Strandes würgt ihn der Stoff hier nun wieder hervor; ich ramme ihn in meine Lunge und werde kurzatmig. So muss
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