Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück
ich dich töten.«
»Nicht! Nein!« Mit beiden Armen versuchte der Sklave sich zu schützen. »Bei Odin, ich halt mein Maul. Wo bist du, verdammt?«
»Hier oben. Über dem Wohnhaus.«
Endlich hatte der Knecht den Fremden entdeckt. Zwar stand er dort wie ein Schütze, der einen Bogen schussbereit hielt, doch die Waffe selbst war im Halbdunkel nicht auszumachen.
»Warum kommst du in der Nacht?«
»Frag nicht! Geh und weck deinen Herrn. Niemand sonst. Sag ihm, ein guter Freund wartet hier. Sag ihm, es geht um das Bärenfell, das er vor Jahren für seine Tochter gekauft hat. Beeil dich!«
Ehe der Sklave gehorchte, rief er mit leisem Pfiff die Hunde zu sich und zeigte ihnen die Gestalt über dem Dach. »Passt gut auf!«
Der Fremde bewegte sich nicht, allein das Hecheln der Hunde unterbrach die Nachtstille. Endlich kehrte der Knecht in Begleitung des Gutsherrn zurück. Auf den Brustharnisch hatte der Alte verzichtet; beide im dünnen Nachtkittel, mit einem Speer bewaffnet und den Schild über dem Kopf, so traten sie langsam aus dem Hausschatten.
Thorbjörn spähte unter dem Schildrand nach oben. »Wer wagt es, unsern Frieden zu stören?«
»Schicke den Sklaven ins Bett!«
»Ich bin kein Narr. Sag, wer du bist!«
»Du kennst mich. Denke an das Bärenfell! Du hast es nicht gekauft. Mein Freund hat es deiner Tochter geschenkt.«
Thorbjörn trat einen Schritt zurück. »Entweder bist du ein Geist oder …?« Achtlos ließ er Schild und Speer zu Boden fallen und befahl seinem Sklaven: »Geh schlafen! Da oben steht niemand. Nichts hast du gesehen, nichts gehört!«
»Aber, Herr …?«
»Schweig! Nimm die Kläffer mit. Und kein Wort zu den andern, sonst ersäufe ich dich im Fluss. Lass mich allein!«
Erst nachdem Knecht und Wachhunde im Gesindehaus verschwunden waren, blickte Thorbjörn wieder zum Felsen hinauf. Der Platz war leer.
»Hier bin ich.«
Der Alte drehte sich um. »Komm näher!« Prüfend starrte er in das Gesicht. »Kann’s kaum glauben.«
»Du darfst nur diese Hälfte ansehen, dann erkennst du mich besser.« Tyrkir wandte die Narbenseite ab.
»Lebt mein Schwiegersohn?«
»Würde ich sonst wie ein Dieb nachts zu dir kommen?« Keine Zeit für lange Erklärungen, im Augenblick sollte Thorbjörn nur das Nötigste erfahren: Die Freunde hatten im Westen ein Land entdeckt. Keine Verluste bei der Mannschaft. Erik war wohlauf. Doch weil seine Strafe erst nach dem Junithing endete, musste sich der Friedlose bis dahin vor Kopfjägern hüten. »Unser Schiff liegt gut getarnt in einer Bucht oberhalb des Lachstals. Drei Nächte sind wir über die Berge hierher gewandert.«
»Wir?« Thorbjörn starrte in den Hang über dem Wohnhaus. »Willst du damit sagen, mein Schwiegersohn hält sich irgendwo da oben versteckt?«
»Nein, aber er wartet nicht weit von hier auf mich.«
»Ihr leichtsinnigen Narren!« Voll Sorge fasste ihn der Alte an der Schulter. »Kaum ein Verurteilter überlebt drei Jahre in der Wildnis. Ihr habt es bis auf einen Monat geschafft. Warum bei allen Göttern bringt ihr euch jetzt noch in Gefahr?«
»Es musste sein.« Tyrkir griff nach dem Handgelenk und hielt es fest. »Nur eine Antwort wollen wir von dir: Hast du Neuigkeiten von Thjodhild und dem Kind?«
»Sie schlafen.«
»Mir ist nicht nach Scherzen zumute. Glaub mir!«
Der Gutsherr schüttelte den Kopf. »Ich bin ein alter Narr, verzeih, Junge! Wie könnt ihr wissen, was geschehen ist?« Er hatte die Aufregung bezwungen. »Es stimmt, was ich sagte, Thjodhild schläft. Und zwar hier auf dem Habichtshof, und in ihrer Kammer liegt nicht nur Leif, sondern auch der kleine Thorvald.«
Sie ist hier! Tyrkir atmete heftig, das unverhoffte Glück benötigte Zeit, sich Raum zu verschaffen. Nein, warte! So gefasst, wie es ihm möglich war, fragte er: »Ein zweites Kind? Von wem?«
»Wag es nicht weiterzusprechen!« Trotz Hast und Gefahr schmunzelte der Alte. »Thorvald ist das Abschiedsgeschenk deines Freundes gewesen. Und ich denke, der Vater wird ihn mit Stolz annehmen. Namensgebung und Heimkehr. Im Sommer richte ich ein prächtiges Fest aus.«
»Vergiss es!« Tyrkir ließ den Gutsherrn nicht zu Wort kommen. »Erik hat einen großen Plan. Mehr darf ich ohne seine Einwilligung nicht sagen.« Stockend setzte er hinzu: »Mir gefällt es auch nicht, aber die Wahrheit ist, erst im nächsten Sommer kann Erik seine Familie wieder sehen. Das musst du Thjodhild erklären!«
Thorbjörn wandte sich ab. Mit großen Schritten durchmaß er den Hof,
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