Erinnerung Des Herzens
gekettet zu sein. Sie kam zu mir. Sie hatte sonst niemanden.«
»Und Sie haben ihr wieder geholfen.«
»Ich stand ihr bei, als Freundin, als Frau. Sie hatte sich bereits für eine Abtreibung entschieden. Das war damals illegal und oft gefährlich.«
Julia schloss die Augen. Sie zitterte. »Das muss entsetzlich für sie gewesen sein.«
»Das stimmt. Ich machte eine Klinik in Frankreich ausfindig, und wir reisten dorthin. Es war qualvoll für sie, Julia, nicht unbedingt körperlich. Aber es ist nie leicht für eine Frau, eine solche Entscheidung zu treffen.«
»Sie hatte Glück, dass sie Sie hatte. Wenn sie ganz allein gewesen wäre ...« Sie öffnete die Augen wieder. Sie waren feucht geworden, wie nasser grauer Samt. »Wofür eine Frau sich in einer solchen Situation auch immer entscheidet, es ist furchtbar schwer, es allein tun zu müssen.«
»Es war ein sehr steriles, sehr ruhiges Haus. Ich saß in einem kleinen Wartezimmer mit weißen Wänden und bunten Illustrierten. Alles, was ich sehen konnte, als sie Gloria wegrollten, war die Art, wie sie die Arme über ihre Augen gelegt hatte und weinte. Es ging sehr schnell, und hinterher durfte ich bei ihr in ihrem Zimmer sitzen. Sie sagte kein einziges Wort, stundenlang. Endlich wandte sie ihren Kopf um und schaute mich an.
>Eve<, sagte sie, >ich weiß, dass es richtig war, das einzig Richtige, aber ich weiß auch, dass nichts, was ich in meinem Leben noch tun werde, so schmerzhaft sein wird.«<
Julia wischte sich eine Träne von der Wange. »Sind Sie sicher, dass es notwendig ist, das zu veröffentlichen?«
»Ich glaube, es muss sein, aber ich will die letzte Entscheidung darüber Ihnen überlassen, wenn Sie auch den Rest noch erfahren haben.«
Julia sprang auf. Ihre Nerven rebellierten. »Diese Entscheidung kann ich nicht übernehmen, Eve. Das kann nur jemand tun, der die Geschichte miterlebt hat, nicht ein Beobachter.«
»Sie sind nie nur ein Beobachter gewesen, Julia. Ich weiß, dass Sie es versucht haben, aber das schafft wohl niemand.«
»Kann sein, dass ich meine Objektivität verloren habe. Kann sogar sein, dass ich hoffe, auf diese Weise ein besseres Buch zu schreiben. Aber es ist nicht meine Aufgabe, darüber zu entscheiden, ob eine so intime Geschichte ausgelassen werden soll oder nicht.«
»Wer könnte es besser?« murmelte Eve und zeigte auf den Stuhl. »Bitte, setzen Sie sich hin. Ich möchte Ihnen den Rest auch noch erzählen.«
Julia zögerte, wusste aber nicht, warum. Die Nacht war hereingebrochen und nur noch von den winzigen bunten Lämp- chen und dem Kerzenschein erhellt. Eine Eule schrie. Julia setzte sich wieder hin und wartete.
»Gloria kehrte nach Hause zurück und führte weiter ihr gewohntes Leben. Ein Jahr später begegnete sie Marcus, und damit begann ein neues Leben für sie. Etwa zur gleichen Zeit traf ich Victor. Unsere Affäre spielte sich nicht in diskreten Hotels oder in schmuddeligen Motels ab. Uns hielt kein leidenschaftliches Aufflammen zusammen, sondern eine langsam brennende, stetige Flamme. Jedoch in anderer Hinsicht hatte unsere Beziehung viel Ähnlichkeit mit der zwischen Michael und Gloria. Er war auch verheiratet, und obwohl seine Ehe unglücklich war, verheimlichten wir unsere Liebe. Obwohl ich Jahre brauchte, um das zu akzeptieren, wusste ich, dass wir außerhalb unserer vier Wände nie als Paar auftreten konnten.«
Der Mond war aufgegangen und verwandelte die sprudelnde Fontäne des Springbrunnens in reines Silber. »Wir liebten uns hier, in diesem Haus. Nur eine Handvoll Leute, die wir beide kennen und denen wir vertrauen, wurden in unser Geheimnis eingeweiht. Ich will nicht behaupten, dass ich keinen Groll gegen seine Frau und manchmal auch gegen Victor wegen allem, was mir vorenthalten wurde, hege, und wegen all der Lügen, mit denen ich gelebt habe. Aber eine Lüge bedrückt mich besonders, eine Sache, die mir gestohlen wurde, macht mir schwer zu schaffen.«
Jetzt stand Eve auf und ging zu den Blumen hinüber, um ihren süßen Duft tief einzuatmen. Jetzt war sie am wichtigsten Punkt angelangt. Wenn sie diese Schwelle überschritt, konnte sie, was auch passieren mochte, nicht mehr ungeschehen machen. Langsam kam sie an den Tisch zurück, setzte sich aber nicht. »Ein Jahr nach unserer Frankreichreise heiratete Gloria Marcus. Zwei Monate später war sie wieder schwanger und halb verrückt vor Freude. Ein paar Wochen später war auch ich schwanger und schrecklich unglücklich.«
»Sie?« Julia sprang auf
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