Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
eine letzte Heimat gerichtet. Nein, meine Sehnsucht bezog sich durchaus auf meine schöne irdische Heimat und auf meine Lieben zu Hause.
Bei den großen Auseinandersetzungen, die ich nicht nur mit meiner Kirche, sondern auch mit den Religionen der Welt auszutragen hatte, war mir dieser persönliche Bezug immer wichtiger geworden.
V. Meine Welt des Islam
»Der Papst würdigte positiv das Bemühen von Professor Küng, im Dialog der Religionen wie in der Begegnung mit der säkula-ren Vernunft zu einer er-neuerten Anerkennung der wesentlichen moralischen Werte der Menschheit beizutragen.«
Gemeinsames Pressekommuniqué von Papst Benedikt XVI. und Hans Küng nach ihrem Gespräch in Castel Gandolfo am 26. 9. 2005
Nach den Vorstößen in die neuen Problemfelder der Wissenschafts- und Paradigmentheorie, der Frauenforschung und der Grenzgebiete von Theologie und Literatur sowie Religion und Musik will ich mich nun in den 1980er-Jahren hauptsächlich der Welt der Religionen – für die ich mich schon seit Jahrzehnten interessiere – zuwenden. Doch hier geht es nun wirklich jeweils um Welten! Wie soll ich mir da genügend Überblick und Einsicht verschaffen, um zum Dialog mit ihnen fähig zu werden? Wie soll ich diese verwirrende Vielfalt der Religionen, Konfessionen und Denominationen, der religiösen Sekten, Gruppen und Bewegungen, dieses kaum überschaubare Miteinander, Durcheinander und Gegeneinander verstehen und für mich geistig ordnen? Ein jahre-, vielleicht jahrzehntelanges Bemühen, nicht nur am Schreibtisch, sondern auch vor Ort steht mir bevor, um mit der Zeit eine Zusammenschau, eine Synopse zu wagen.
Schon im ersten Teil meines Buches »Christ sein« (1974) hatte ich mir eine erste »Tour d’Horizon« der Weltreligionen gestattet. Doch tat ich dies bewusst in säkularem Kontext, in der Auseinandersetzung mit dem modernen Atheismus, dem ich dann den Großteil meines anschließenden Buches »Existiert Gott?« (1978) und des Buches »Ewiges Leben?« (1982) gewidmet habe. Mit dieser ersten Trilogie über die christliche Religion in den 1970er-Jahren war ich, so schien mir, optimal auf die Diskussion mit den anderen Weltreligionen vorbereitet: nicht in der üblichen apologetischen Abwehr, sondern als Antwort auf die Herausforderung der anderen Weltreligionen, begleitet freilich von Rückfragen. So konnte ich in den 80er-Jahren meine Beschäftigung mit den Weltreligionen durch wissenschaftliche Dialoge mit Judentum und Islam, aber auch Hinduismus, Buddhismus und chinesischer Religion beginnen und schließlich in den 90er-Jahren und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts mit einer zweiten Trilogie, diesmal über die drei abrahamischen Religionen, und der siebenteiligen Fernsehserie »Spurensuche« über die sieben Weltreligionen abschließen.
Erfahrungen mit dem vielgestaltigen Islam
Religionen kann man schwerlich nur aus Büchern kennenlernen. Sie sind lebendige Organismen, die erfahren werden wollen. Eine gründliche Kenntnis von Religion bedarf beider: der Erfahrung und der Reflexion, der Reisen wie der Lektüre. Doch gerade die Welt des Islam, um die es in diesem Kapitel geht, ist riesig. Viele Reisen sind zu machen zwischen Marokko und Malaysia, Usbekistan und Mosambik, wenn man diese Welt nicht nur aus Büchern kennen will. Und kennenlernen will ich sie, so gut das einem einzelnen Menschen in beschränkter Lebenszeit möglich ist.
Meine ersten Erfahrungen mit dem Islam datieren aus den 1950er- und 1960er-Jahren, wie in den ersten beiden Erinnerungsbänden berichtet. Und ich habe mir Mühe gegeben, dem lebendigen Islam (wie dem lebendigen Judentum) nicht nur mit großer Neugierde, sondern auch mit innerer Offenheit und Sympathie zu begegnen. Gehöre ich doch nicht zu jenen Menschen, die über den Globus trotten und überall das Essen weniger gut finden als zu Hause.
Natürlich habe auch ich meine kritischen Fragen an den Islam, doch versuche ich mein Vor-Verständnis von der Wirklichkeit her zu korrigieren und es sich nicht zum bleibenden Vor-Urteil verfestigen zu lassen. Gerne spreche ich mit Leuten direkt, wo sprachliche Verständigung möglich ist; Berührungsängste kenne ich nicht. Und ich freue mich, wo immer ein zunächst ernstes oder emotionsloses Gesicht sich durch ein Lächeln völlig verändert. In westlichen Medien werden ja mit Vorliebe nicht lächelnde, sondern finstere, wütende und schreiende muslimische Gesichter gezeigt.
So lebt denn meine Dialogarbeit immer auch aus
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