Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
sein.
Gerne benütze ich die Gelegenheit, in einer anderen großen Moschee an einem der größten Feste des Jahres zu Ehren eines Heiligen teilzunehmen. Es ist ein faszinierendes Erlebnis, wie da vor einer Menschenmenge von Tausenden mit rhythmischem Gesang und Schreiten die Reliquien des Heiligen durch die Moschee getragen werden. Mit bloßen Füßen so lange auf kaltem Steinboden zu stehen bereitet mir allerdings kein Vergnügen und trägt vermutlich die Schuld daran, dass ich am nächsten Abend in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad nach einem schönen Bankett beim Schweizer Botschafter WIPFLI meine Rede vor zahlreichen Diplomaten abbrechen muss; mit einem Schüttelfrost wirft es mich aufs Bett. Glücklicherweise hatte ich meinen Vortrag im Christian Study Centre im benachbarten Rawalpindi und einen höchst freundlichen Dialog mit Gelehrten der Quaid-i-Azam University und der Islamischen Universität von Islamabad schon hinter mich gebracht.
Anschließend bin ich immerhin fähig, nach Süden in Pakistans größte Stadt zu fliegen: Karatschi, am Westrand des Indusdeltas und am Arabischen Meer gelegen. Bei dem in Karatschi ansässigen Muslimischen Weltkongress (World Muslim Congress) werde ich mit allen Ehren empfangen und mit zahlreichen Broschüren und Büchern versehen. Ich lebe vor allem von Tee, kann aber doch ein informatives Gespräch mit dem bekannten Rechtsanwalt KHALID ISHAQUE führen über islamisches und modernes Recht und die Konfliktfälle, die sich da bieten. Die abendliche Party in seiner privaten Residenz zeigt mir eine recht mondäne islamische Gesellschaft, in welcher elegante Damen in großer Garderobe und selbstverständlich ohne Schleier völlig gleichberechtigt sich bewegen und diskutieren – freilich faktisch schon bald Männer und Frauen getrennt.
Doch bin ich froh, als ich schließlich – nachdem ich mir am Flughafen mit dem Schlachtruf »international ticket« eine Bahn durch die dichte Menschenmenge erkämpft hatte – im Flugzeug auf dem Weg ins arabische Dubai am Persischen Golf sitze. Die Zeit dort verbringe ich in meinem Hotelzimmer und wage mich auch gegen alle meine Gewohnheiten kaum an die Sonne. Immerhin bin ich anschließend erholt genug, um den Flug nach Deutschland anzutreten, wo ich am 27. Februar 1984 eintreffe.
Dr. Riffat Hassan gründet später in Lahore mit Unterstützung der Regierung das Iqbal Institute for Islamic Research. Im Geist des toleranten großen Denkers und Dichters MUHAMMAD IQBAL , des geistigen Vaters des neuen Staates Pakistan, will sie das universalistische Gesicht des Islam zeigen, die ethischen Werte, die der Islam mit anderen Religionen und anderen großen Traditionen der Welt gemeinsam hat. Die Erfahrungen bei Religionsdialogen können indes sehr unterschiedlich sein.
»Blasphemie« (Harvard) – »Clash« (Schloss Windsor) – »family dinner« (Lech)
Am 16. Oktober desselben Jahres 1984 halte ich eine Vorlesung über »Christentum und Islam« an der Harvard Divinity School . Dort erlebe ich, wie rasch sich bei einem solchen Vortrag eine gefährliche Situation entwickeln kann. Als ich nämlich meine Rückfrage stelle, ob der Koran als Gottes Wort nicht auch Wort des Propheten und folglich geschichtliches Menschenwort sei, meldet sich der Philosophieprofessor SEYYED HOSSEIN NASR, ein iranischer Muslim, mit dem pathetischen Ausruf: »Das ist Blasphemie!« Ein solcher Ruf von einem angesehenen Gelehrten – er musste aus dem Iran Khomeinis emigrieren – erstaunt mich; er könnte im falschen Publikum für Aufruhr sorgen.
Es gelingt mir, die Diskussion in weniger emotionale Bahnen zu lenken: Wir haben doch bis heute im Christentum mit dem Gotteswort der Bibel ähnliche Probleme, obwohl in den biblischen Schriften der menschliche Autor immer wieder in den Vordergrund tritt. Und in Harvard – wie auch anschließend mit demselben Vortrag am 17./18. Oktober an der Temple University in Philadelphia mit WILFRED CANTWELL SMITH , RAIMON PANIKKAR und JOHN COBB 1 oder am 1. November in Zürich in der großen Aula der ETH – muss ich nicht mit gewaltsamen Reaktionen rechnen, wie sie in der islamischen Welt erst später drohen. Allerdings hatte ich es einige Jahre früher auch in der Schweizer Stadt St. Gallen vor großem Publikum erlebt, wie ein frommer römischer Katholik während meines Vortrags plötzlich in den Saal schrie: »Das ist Häresie!« Doch – angesichts meines Lächelns – ohne ein großes Echo auszulösen.
Vom 15. bis
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