Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
18. November 1984 bin ich eingeladen ins Schloss Windsor bei London, wo zum ersten Mal eine Konferenz von Christen, Muslimen und Juden stattfindet. Und da ereignet sich nun glücklicherweise ein nur verbaler »Clash«. Der von mir hoch geschätzte Rabbiner JONATHAN MAGONET , Professor am Leo Baeck College in London, im muslimisch-jüdischen Dialog damals noch wenig erfahren, meint einen überzeugenden Beitrag zu liefern, wenn er schlicht ganz persönlich das Leid schildert, was es bedeutet, heutzutage Jude zu sein. Mich bewegt seine in ruhiger Leidenschaft vorgetragene Rede, aber ich bemerke auch sofort die zunehmend gefährliche Unruhe im Auditorium. Offensichtlich fordert er zunehmend den Zorn der Araber heraus, die sich gerade in Palästina von der israelischen Besatzungspolitik aufs Schlimmste unterdrückt sehen mit zahllosen leidvollen Folgen für das ganze Volk: die jüdischen Täter als Opfer? Es kommt zum »Clash«: Die Proteste sind so heftig, dass der Moderator der Versammlung, der Kronprinz von Jordanien, HASSAN BIN TALAL , die Sitzung abbricht.
Anschließend rede ich mit meinem Freund Jonathan und erkläre ihm, dass seine Intervention missverstanden werden musste und er am besten am nächsten Morgen eine kurze Erklärung abgeben solle. Der Moderator Prinz Hassan, den ich nachher spreche, ist sehr damit einverstanden, und so wird am nächsten Tag der Konflikt mindestens äußerlich beigelegt. Aber ich merke schon, wie vorsichtig man gerade dann argumentieren muss, wenn der israelisch-arabische Konflikt ins Spiel kommt – übrigens gegenüber Juden ebenso wie gegenüber Muslimen. Immer mehr geht mir auf, welcher Schaden für das Judentum überhaupt dadurch entsteht, dass die Israelis nach dem Sechstagekrieg 1967 aus einer Position der Stärke heraus nicht den Frieden, sondern offen oder verdeckt die dauernde Besetzung des palästinensischen Landes (»Großisrael«) anstreben.
Am Ende dieses großen Jahres des Dialogs, den ich in Pakistan begonnen hatte, mit den Tübinger Dialogvorlesungen durch wissenschaftliche Reflexion überprüft und für mich neu fundiert und in den USA und England durchgeprobt hatte, steht ein erfreuliches Ereignis. Ich verbringe die Weihnachtstage wie üblich in der Stille von Lech am Arlberg . Da ruft mich Kronprinz Hassan von Jordanien, der auch regelmäßig in Lech Ski fährt, an und fragt mich, ob ich Lust hätte zu einem »family dinner« mit KÖNIGIN BEATRIX der Niederlande und PRINZGEMAHL CLAUS , dem indischen Botschafter in Wien und dem Vizepräsidenten Indiens Dr. Singh. »Sehr gerne, es ist eine große Ehre für mich, aber was heißt ›family dinner‹?« Prinz Hassans Antwort: »No tie! (Ohne Krawatte!)«.
So ziehe ich denn am 28. Dezember 1984 meinen feineren Skipullover an, wie es in Lecher Sporthotels auch abends durchaus üblich ist, und begrüße mit Freuden Königin Beatrix, die auf einem einfachen langen Kleid nur eine große kostbare Brosche trägt. Zu meinem Befremden stelle ich fest, dass ich jetzt der Einzige bin, der nur in einem Pullover und nicht in einem Sakko erscheint. Etwas später sage ich Prinz Claus, dass mich der Ausdruck »family dinner« bezüglich der Etikette offensichtlich irregeführt hätte. Darauf Prinz Claus: »Wir haben doch alle nur den Sakko angezogen, weil Professor Küng kommt.« Und zieht prompt seinen Sakko aus, ein Signal auch für die übrigen Herren. Der Abend verläuft fröhlich, und gerne unterhalte ich mich in dieser Runde über Fragen des interreligiösen Dialogs, aber beim Kaffee auch mit Königin Beatrix über die Erziehung ihrer Kinder. Als ich meine, auch sie als Mutter hätte wohl dieselben Probleme wie alle Mütter, erwidert sie: »Eher noch mehr, meine Kinder meinen, sie seien schlechter gestellt als andere in Holland, weil sie pünktlich nach Hause müssten und überhaupt ständig Disziplin an den Tag legen sollten.«
Mit Bestürzung habe ich im Jahr 2012 vom schweren Skiunfall ihres Sohnes Friso erfahren, der auch anderthalb Jahre später noch im künstlichen Koma liegt – eine ungeheure Belastung für seine Frau und für seine Mutter, die Königin, die 2013 mit 75 Jahren den Thron an ihren Sohn Willem Alexander abgibt.
Erste interreligiöse Gespräche in der Khomeini-Ära: Teheran
Schon im November 1964 war ich zum ersten Mal kurz in Teheran und habe das Persien des Schahs MOHAMMAD REZA PAHLAVI kennengelernt: Ein Land, das mithilfe der Ölquellen wirtschaftlich-industriell prosperiert, politisch-sozial
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