Erlöst mich: Thriller (German Edition)
herunterrutschte und, ehe er sie festhalten konnte, mit lautem Knall auf den Boden schlug.
In dem Schatten hinter ihm fluchte jemand auf Englisch. »Herrgott noch mal!«
Chivas sprang vor Schrecken zur Seite und schaffte es knapp, einen ängstlichen Aufschrei zu unterdrücken.
»Nicht umdrehen«, zischte der Mann. Er klang, als wäre er Engländer oder Amerikaner.
Chivas blieb regungslos stehen, Furcht überkam ihn, ob er vielleicht den Inhalt der Kiste beschädigt oder gar zerstört hatte. »Tut mir leid, Boss, das wollte ich nicht …«
»Maul halten. Lass diese Kiste hier, und nimm die andere mit. Ich bin bewaffnet. Wenn du mich ansiehst, bist du tot, kapiert?«
»Klar, Boss.«
»Du hast doch nicht hineingeschaut?«
Chivas schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Boss. Ich habe sie gerade eben erst abgeladen. Sie ist immer noch versiegelt.«
»Gut, dann setz deinen Arsch in Bewegung. Und noch mal: Sieh mich nicht an.«
Das musste man Chivas nicht zweimal sagen. Der Fremde hatte ihm so viel Angst eingejagt, dass er sich fast
in die Hose gemacht hätte, deshalb schob er die neue Kiste auf die Karre und transportierte sie so schnell er konnte durch das Tor und zurück zum Truck. Dabei starrte er direkt vor sich auf den Boden und betete im Stillen, der Fremde möge nicht seine Meinung ändern und ihm eine Kugel verpassen.
Kaum eine Minute später kletterte er erleichtert seufzend ins Führerhaus, nachdem er die neue Kiste blindlings auf die Ladefläche geworfen hatte. Er überlegte bereits, was er mit den zwanzigtausend Pesos anstellen konnte, und nahm vielleicht deshalb die Bewegung hinter sich zu spät wahr. Im Grunde erst, als die Klinge bereits langsam, aber tief einschneidend über seine Kehle gezogen wurde.
Während er sein eigenes Blut gegen die Windschutzscheibe sprühen sah, galt sein letzter Gedanke nicht seinen Kindern, seiner Frau Mariel, seinem Truck oder seinen zwanzigtausend Pesos.
Stattdessen fragte er sich, was wohl in der Kiste gewesen war, und warum er dafür sterben musste.
12
Ehe sie anhielt, sah Tina noch einmal in den Rückspiegel, doch die Straße hinter ihr war leer, und sie war sich sicher, nicht verfolgt worden zu sein. Sie hatte abgelegene Landstraßen benutzt, sogar einige Feldwege, und ein Fahrzeug, das sie verfolgte, wäre ihr nicht entgangen. Trotzdem parkte sie gut zweihundert Meter vom Haus ihrer Eltern entfernt. Sie hatte über drei Stunden für die Fahrt gebraucht, fast doppelt so lange wie gewöhnlich. Einmal musste sie sogar anhalten, weil der Schock der Ereignisse sie einholte. Zehn Minuten saß sie, in der Hand eine unangezündete Zigarette, zitternd hinter dem Steuer und mühte sich, nicht laut loszuheulen, während das Bewusstsein, nur knapp dem Tod entronnen zu sein, wie eine Welle über ihr zusammenschlug. Erst dann schaffte sie es, sich so weit zu beherrschen, dass sie weiterfahren konnte.
Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 9:31 an. Sie stellte den Motor ab und stieg aus. Ehe sie sich auf den Weg machte, atmete sie noch ein paar Mal tief durch.
Als sie sieben war, hatte sich ihre Familie in diesem ruhigen, von Bäumen gesäumten Winkel am Stadtrand von Winchester niedergelassen. Sowohl die Grund- als auch die Realschule waren leicht zu Fuß zu erreichen gewesen, und sie hatte sich immer gefreut, wenn sie von der Schule nach
Hause kam. Auch später noch, denn alles wirkte so vertraut und erinnerte sie an die beschwingten Tage ihrer Kindheit.
Plötzlich hörte sie, wie hinter ihr ein Wagen in die Straße einbog. Eine Sekunde lang blieb sie stocksteif stehen, tastete nach dem Schocker in ihrer Manteltasche, obwohl sie damit niemanden mehr überraschen würde und nicht sicher war, ob sie die Kraft für einen weiteren Kampf hatte.
Ein schwarzer Mercedes-Geländewagen fuhr langsam an ihr vorbei. Tina versuchte so beiläufig wie möglich einen Blick ins Innere zu werfen, aber die Scheiben waren getönt, und sie konnte den Fahrer nicht erkennen. Sie verfluchte sich. Das Letzte, was sie brauchte, war, ihre Dämonen in das Leben ihrer Eltern mitzuschleppen.
Doch dann bog der Mercedes einige Häuser weiter in eine Einfahrt, und kurz darauf sprang eine attraktive Frau in den Dreißigern heraus, strich ihre lange blonde Mähne zurück und ging mit ausholenden Schritten zum Haus.
Als sie hineingegangen war, seufzte Tina auf und versuchte, ihre Paranoia abzuschütteln. Sie hatte alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, und ihr fiel keine Möglichkeit ein, wie
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