Ernten und Sterben (German Edition)
traditionellen Lebensmittelerzeuger am langen Arm verhungern lassen wollte.
Nach einem anstrengenden Arbeitstag hängte Clementine ihre Schürze an den Nagel, um sich von Sören zu verabschieden.
»So viele Getränke habe ich nicht mal beim letzten Schützenfest verkauft. Wie hast du das nur hinbekommen? Die saufen sich ja einen Wolf«, sagte Sören.
Selbst in der Küche waren die lautstarken Diskussionen im Schankraum zu hören und dazwischen die Bestellungen nach mehr Alkohol in jeder Form.
Clementine lächelte weise. Sie ließ ihren Gesprächspartner zappeln wie den sprichwörtlichen Fisch an der Angel.
»Kannst immer bei mir anfangen, wenn dich deine Chefin rauswirft«, sagte Sören. »Was weißt du eigentlich alles über unseren Bürgermeister? Da scheinen sich die Gerüchte ja zu überschlagen.«
»So eine Arztpraxis ist ja belebter als jeder Beichtstuhl, und unter Schmerzen hat jeder etwas zu erzählen. Das wussten schon die Folterknechte im Mittelalter.« Tief zufrieden verließ Clementine die »Heideblume«.
Die ersten Schritte auf dem unebenen Feldweg fielen Clementine schwer, weil sie ihre geliebten Jikatabis zu Hause gelassen hatte. Die sogenannten Ninja-Schuhe sahen aus wie dünne Handschuhe für die Füße und waren im Haus extrem bequem. Stattdessen hatte sie sich Sportschuhe des japanischen Herstellers Asics angezogen, um im Notfall besser flüchten zu können. Relativ schnell kam der Hochsitz in ihr Blickfeld, auf dem Egon-Erwin Posten bezogen hatte. Obwohl es noch früh am Morgen war, konnte sie eine Sonnenreflexion erkennen, die vom Glas des Objektivs stammen musste. Die erste Aufregung legte sich, und langsam entspannte sie sich.
Das wird tatsächlich ein Spaziergang, dachte sie. Ihre Bewegungen wurden kraftvoller. Nur die Ruhe der Natur beunruhigte sie noch ein wenig. Sanft bewegten sich die Äste, und ganz leise war das Rascheln der Blätter zu hören. Selbst die Vögel hielten sich zurück. Langsam kam der Findling, der wie ein Hinkelstein aussah, in Sichtweite, und Clementine fragte sich, ob ihr Plan kein Hirngespinst war.
Egon-Erwin blickte angestrengt durch sein Teleobjektiv und wunderte sich, warum Clementine immer schneller ging. Weder hinter ihr noch vor ihr war etwas Verdächtiges zu entdecken. Er konnte Hubertus nicht sehen, aber die sanften Rauchwolken, die hinter dem Findling aufstiegen, waren ein sicheres Zeichen, dass der Archivar dort verborgen war und sich eine Zigarre am Morgen genehmigte. Nur vom Bürgermeister war nichts zu erkennen.
Also fing Egon-Erwin an, wahllos Fotos zu machen. Erst waren es die Feldhasen, dann Vögel, und als ihm nichts mehr einfiel, knipste er Bäume. Dann ließ seine Konzentration nach, und er überlegte krampfhaft, wie viele Gläser er am gestrigen Abend noch im »Bärenkrug« geleert hatte. Egon-Erwin hatte seine Alkoholintoxikation, vulgo Kater, verschwiegen, weil er im »Bärenkrug« auch den Bürgermeister getroffen hatte. Er wahrte zwar einen gewissen Sicherheitsabstand, konnte aber nicht verhindern, dass er sich kurz vor der Sperrstunde wie alle anderen auch eine ziemliche Menge Korn genehmigte. Genau wie der Bürgermeister, der nicht mehr geradeaus gehen konnte. Grund genug für ihn, heute den Exzess mit Schlaf auszukurieren. Beim Gedanken an Bier Nummer sechs spürte er einen stechenden Schmerz am Hals. Etwas musste ihn gestochen haben, eine Bremse vielleicht. Doch dieses Etwas war sehr viel größer als ein Insekt. Und der leichte Schmerz fühlte sich wie eine Spritze beim Arzt an. Egon-Erwin zog daran und hielt einen Betäubungspfeil in den Händen. Als er sich erschrocken umdrehte, blickte er in ein grinsendes Gesicht. Kurz vor der Ohnmacht musste er an einen berühmten Rebellen denken.
»Bedank dich bei Anonymous, dass er ein Herz für Journalisten hat. Denn mein Motto ist ›V für Vendetta‹!«
Clementine lief gemütlich den Feldweg entlang und plante in Gedanken das Abendessen. Wiesensalat mit Räucherfisch oder Erbsenschaumsuppe? Was, wenn es keinen Feldsalat auf dem Markt gab? Nun, Tiefkühlerbsen konnte man immer kaufen und Krabben auch. Die Minze würde allem mehr Frische geben. Das war nicht schlecht. Außerdem war es herzlos, dem Kaninchen, das schon ausgenommen in der Speisekammer hing, das eigene Lieblingsessen wegzufuttern. Lange genug im Riesling und dem bunten Gemüse gegart, dürfte das Fleisch weich und zart werden und sehr gut zu den kräftigen Rosmarinkartoffeln passen. Obwohl ihr die Beilage mittlerweile
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