Ernten und Sterben (German Edition)
weiterhin auf Focken gerichtet.
Clementine untersuchte seelenruhig das linke und rechte Bein des Bürgermeisters und schüttelte dann den Kopf. »Er ist es nicht. Er ist ein Trittbrettfahrer oder wie man so was nennt. Oder einfach nur übergeschnappt? Oder ein geisteskranker Alkoholiker.« Sie richtete sich wieder auf und zuckte mit den Schultern.
Weder Hubertus noch Clementine fiel in der Aufregung auf, dass Egon-Erwin alles fotografierte. Nur Focken runzelte die Stirn, traute sich aber nicht mehr herumzubrüllen. Er wollte jetzt sichtlich seine Ruhe haben, die ganze Geschichte wuchs ihm wohl über den Kopf. Der einsetzende Alkoholentzug ließ seine Hände zittern. Er warf die Serviette achtlos hinter sich und gab den anderen ein Zeichen, ihm zu folgen. Gemeinsam umrundeten sie das Haus, stiegen die Treppe zum Keller hinunter und gingen direkt zu der Stahltür, die Focken ohne Widerworte öffnete.
Albertine war mit dem Bürostuhl umgekippt, sodass sie nun auf dem Rücken lag. Ihr Beine strampelten in der Luft, und ihr Oberkörper zuckte, während sie den Kopf hin- und herwarf.
Clementine und Hubertus brauchten einen kurzen Moment, um die Situation zu erfassen. Dann reagierten sie instinktiv. »Ganz ruhig, Albertine. Es ist vorbei. Wir befreien dich jetzt«, sagte Hubertus.
Gemeinsam mit Egon-Erwin richtete er den Drehstuhl auf und löste die Fesseln. Als Letztes zog er die Mütze von Albertines Kopf und entfernte behutsam das Gaffer-Tape von ihrer Mundpartie. Sie kniff die Augen im gleißenden Neonlicht zusammen, doch nach und nach gewöhnte sie sich an die Helligkeit.
Sie erkannte Focken, der zu Boden blickte. Dann sah sie Clementine und Hubertus lächeln und Egon-Erwin, dem die Kamera im Gesicht festgewachsen zu sein schien. Zu guter Letzt wurde ihr auch klar, was die Quelle des surrenden Dauergeräuschs war, das sie in den letzten Minuten ständig gehört hatte.
»Leck mich doch am Arsch!«, rief sie. »Da steht wirklich eine Modelleisenbahn!«
Das Bein blutete. Das irritierte ihn, weil er es nicht stoppen konnte. Blut an sich machte ihm keine Angst. Er konnte Tiere töten und sie ausbluten lassen. Er konnte sie ausnehmen und wie ein Metzger weiterverarbeiten. Menschen zu töten, machte ihm mehr Spaß. Er konnte ihre Angst riechen und die Verzweiflung schmecken, wenn sich das Leben verabschiedete. Er liebte die Allmacht, die totale Kontrolle. Nicht nur deshalb war der heutige Tag eine einzige Niederlage. Sich von einer Köchin in die Defensive drängen zu lassen, hatte sein Ego verletzt. Sein Ego blutete genau wie sein Bein. Er schwor Rache und Schmerzen, während er einen neuen Verband anlegte, der schon nach einer halben Stunde wieder rot leuchtete. Er spürte nichts außer Hass. Er war bereit, wieder zu töten.
Albertine, Clementine, Hubertus und Egon-Erwin standen am Findling und konnten ihren Erfolg nicht genießen. Bürgermeister Focken hatte sie auf Knien angefleht, die Polizei aus dem Spiel zu lassen, und sich bei Albertine auf eine Art und Weise entschuldigt, die schlichtweg unwürdig war. Ihnen war sowieso klar, dass auch sie selbst nicht ohne Schuld waren. Sie hatten sich verrannt, waren einer falschen Fährte nachgejagt. Das hätte auch schiefgehen können.
Immerhin war jetzt wenigstens aus dem Phantom ein Killer aus Fleisch und Blut geworden. Ein bisschen von seinem Blut hatte er ihnen sogar dagelassen. Clementine schob vorsichtig mit dem Messer ein Häufchen Erde mit einem dicken, geronnenen Blutstropfen in ein Plastiktütchen, das sie von der Eisenbahnanlage des Bürgermeisters entwendet hatte.
»Was machen Sie denn da, Clementine?«, fragte Albertine.
»Ich nehme eine Probe mit dem Blut des Maskenmannes.« Clementine erhob sich und knotete das Tütchen energisch zu. »Vielleicht kann die Polizei ja etwas damit anfangen. Wenn wir ihnen die Probe einfach ohne Absender schicken …«
»Das ist vielleicht ein wenig naiv«, sagte Egon-Erwin. »Da könnte ja jeder Schweine- oder Katzenblut einreichen. Ich könnte aber meine Kontakte spielen lassen, und dann würde man die Probe gleich dem richtigen Fall zuordnen.«
»Und wie erfahren wir dann das Ergebnis? Sollen wir etwa diese Kommissarin anrufen und ein wenig plaudern?« In Hubertus’ Gesicht war immer noch nicht das Blut zurückgekehrt. Er sah aus wie ein Geist.
»Solange ich keine Geschichte daraus machen kann, bringt das alles eh nichts. Wir würden zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Der Killer wird noch einmal aus der Reserve
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