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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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schwammen in Tränen. Hände. Wo waren ihre Hände? Warum konnte sie ihre Hände nicht bewegen?
»Ich bin draußen, Mummy.« Susies Stimme war weit weg, aber sie schien kräftiger zu sein. »Ich glaube, mir ist nichts passiert.« Plötzlich war ihr Gesicht da, nah bei Cissy. »Kannst du rausklettern?«
Cissy versuchte nachzudenken. Rausklettern. Es klang wie eine gute Idee. Aber wie? Durch ihren Schmerz schien sie in der Luft zu hängen, im All zu treiben.
»Ich…« Sie versuchte es noch einmal. »Alles in Ordnung. Meine Rippen. Ich glaube, meine Rippen sind gebrochen.«
»Es ist der Sicherheitsgurt. Du hängst im Sicherheitsgurt.« Susies Stimme war außergewöhnlich kräftig. »Ich sehe mal, ob ich ihn mit irgendwas durchschneiden kann.«
»Nein.« Das Kopfschütteln tat weh. Vielleicht war auch ihr Genick gebrochen. Ihre Gedanken waren verstreut, wie ein Schwärm Tauben, nachdem ein Knallkörper losgegangen war. Ordne sie neu. Krieg sie in den Kopf. Denk nach. »Kannst ihn nicht durchschneiden. Du mußt ihn lösen.«
»Mum, ich kann nicht. Ich komme nicht an den Verschluß ran, du drückst ihn zu.« Susies Haare hingen ihr ins Gesicht. »Wir müssen dich irgendwie hochkriegen. Kannst du dich in diese Richtung ziehen?«
Die Hände des Mädchens waren besonnen und kompetent. Sie würde eine gute Krankenschwester abgeben. Cissy dachte ein paar Sekunden lang über ihre Hände nach. »Mummy!« Die Stimme klang jetzt böse; ungeduldig. »Konzentrier dich. Du kannst nicht da hängenbleiben. Wir müssen dich hier rauskriegen. Leg deine Hand da oben hin. Da, wo meine ist. Gut so. Jetzt halt dich fest. Genau. Nicht loslassen.«
Sie würde auch einen guten Befehlshaber abgeben. Entschlossen. Bestimmt. Ruhig. Wenn sie sich in ihrer endlosen Popmusik verlor, konnte man leicht vergessen, was das Kind für ein Mensch war. Sie war ein Schatten geworden, der im Haus herumging und nach einem unhörbaren Rhythmus zuckte »Mummy!«
Dummes Ding. Gab Befehle. Dumme Befehle.
»Mummy! Leg deine Hand hierhin.«
Auch noch ungeduldig. Pampige kleine Kuh nannte sie ihr Vater. Joe. Joe! Wo war Joe?
Sie mußte laut gerufen haben. Susies Gesicht war da, wieder direkt vor ihr. Besorgt, freundlich. »Dad kommt bald, aber zuerst müssen wir dich hier rausholen.«
Susie hatte gesehen, daß ihrer Mutter etwas Blut aus dem Mundwinkel tropfte. Es jagte ihr fürchterliche Angst ein. Cissy sollte sich um sie kümmern, nicht umgekehrt. Sie warf erneut einen Blick über die Schulter, auf die dunklen Bäume. Es war nichts von ihm zu sehen, von dem Spinner, der plötzlich mitten auf dem Weg vor ihnen gestanden hatte und der Schuld daran war, daß sie ins Schleudern geraten waren, aber er mußte noch da draußen sein. Er mußte gesehen haben, wie sie umstürzten.
Marcus
Der Name trieb in ihren Kopf. Der tote Römer aus Allies Grab am Strand.
»Mummy!« Ihr Entsetzen gab ihr Kraft, und sie wandte sich wieder der zerbrochenen Windschutzscheibe zu, lehnte sich an die Kühlerhaube, versuchte, ob sie die Schulter ihrer Mutter packen konnte. »Wenn ich es sage, versuchst du, so viel von deinem Gewicht wie möglich hier rüber zu legen, auf den Türrahmen. Ich probiere dann, den Sicherheitsgurt aufzukriegen.« Sie atmete tief durch und streckte den Arm durch die zerbrochene Windschutzscheibe in den Wagen. Am Sicherheitsgurt klebte Blut; der Verschluß war schlüpfrig, schwer zu drücken, und der Gurt spannte sich unter dem Gewicht ihrer Mutter. Sie legte die Finger um den Verschluß und machte sich bereit. »Jetzt. Jetzt! Komm schon, zieh dich hoch, so weit du kannst. JETZT!« Verzweifelt drückte sie den Verschluß nach unten, um ihn zu lösen. Nichts geschah. »Nicht nachlassen. Zieh dich weiter rauf!« Er mußte aufgehen. Er mußte.
Ziehen. Cissy krampfte die Finger um den Fensterrahmen. Ziehen. Gute Idee. Das Gewicht verringern. Den Druck von den Rippen nehmen. Sie zog erneut, und der Druck war weg.
»Geschafft!« Der schrille Schrei in ihrem Ohr war ekstatisch. Dann fiel sie. Verzweifelt klammerte sie sich wieder fest. Susie hatte den Arm um sie gelegt und mußte ihr ganzes Gewicht halten. Sie spürte, wie das Mädchen schwankte. Der Arm schloß sich um sie, und der Schmerz kam mit voller Wucht zurück, aber irgendwie war sie halb durch die Windschutzscheibe gekommen. Als sie mit den Händen wild um sich schlug, spürte sie Gras und Dornensträucher; durch ihr Gewicht rutschte sie über die Kühlerhaube aus dem Wagen auf den Boden, und plötzlich lag sie im

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