Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

warteten die Priester. Sie sah das goldene Messer, den Strang, die Schale mit dem heiligen Met. Während sie das alles wahrnahm, drehte ersieh um. Einen Moment lang sah sie sein Gesicht. Sein Gesichtsausdruck war verschlossen, kalt, gelassen, so als sei sein Geist bereits entschwunden. Der Priester trat mit der Schale vor. Mit einer Verbeugung reichte er sie Nion. Der junge Mann wandte sich wieder gen Osten. Er hob die Schale in Richtung der roten Wolken. In der Ferne, zwei Meilen entfernt, am Horizont, wo sich Himmel und Meer trafen, blutete die purpurrote Farbe von unterhalb der Erdkrümmung nach oben. Hinter ihm hob der Priester das Messer. Alle warteten, die Augen in die Ferne gerichtet, wo die Sonne aufgehen würde.
    Claudia biß sich auf die Lippen, um ihre Tränen zurückzuhalten. Sie ballte die Fäuste. Er würde sie nicht sehen, noch ihre Qualen hören. Auch ihre Augen suchten den Horizont. Sie sah, wie ein winziges Stück Scharlach aus dem blutroten Nebel auftauchte.
    Nions Körper straffte sich. Seine Finger umklammerten den Rand der Schale. Den Bruchteil einer Sekunde lang schien er sie Richtung Sonne zu stoßen, dann warf er seinen Kopf zurück und begann zu trinken. Sie sah die Bewegung seiner Kehle; sie sah, wie die goldene Flüssigkeit an den Seiten der Schale überschwappte, aufsein Kinn, wie sie über seine Arme lief und auf seine Brust spritzte. Er trank die Schale leer bis zur Neige und schleuderte sie in den Sumpf, dann kreuzte er die Arme vor der Brust und kniete nieder.
    Hinter ihm traten die beiden Priester vor. Sie sah, wie der rote Widerschein der Sonne auf der Messerklinge funkelte. Und sie sah die Garotte, wie sie schnell und geschickt um seinen Hals schlüpfte.
    Das Essen war hervorragend gewesen. Bill saß anschließend noch lange über seinem Kaffee. Neben seiner Tasse lag die Times, ordentlich gefaltet, das Kreuzworträtsel oben. In der letzten Stunde hatte er nur zwei Hinweise geknackt, und er fühlte sich entmutigt. Er warf einen Blick zum Fenster. Draußen schien der Schneeregen aufgehört zu haben. Zwischen den Wolken blitzte es hellblau hervor. Als er das sah, spürte er, wie sich plötzlich seine Laune verbesserte. Verdammt nochmal, jetzt waren es nur noch an die zwanzig Meilen.
    Er verfrachtete ein paar Tragetaschen voller Lebensmittel von Marks and Spencer und vier Weinflaschen in den Kofferraum seines Wagens und schob sich dann auf den Fahrersitz.
    Es gab keine Probleme, bis er zu dem Weg durch den RedallWald kam, aus dem der Schneeregen einen Morast gemacht hatte. Er parkte am Straßenrand und stieg aus. Hinter ihm walzte sich ein Traktor die Straße entlang und hielt. Bill ging zu ihm hin. »Hallo, Joe. Hältst du mich für verrückt, wenn ich mit dem Auto runter zum Cottage fahre?«
    Joe lachte. Er kratzte sich am Kopf. »Ich würde sagen, du bist verrückt, daß du überhaupt gekommen bist«, schrie er über das Zittern des Motors hinweg. »Ich sag‘ dir was. Du kommst mit und läßt dein Auto oben bei der Farm stehen, und ich bringe dich dann runter. Das ist das Vernünftigste.«
    Statt weiter gegen den riesigen Motor anzubrüllen, machte Bill grinsend mit dem Daumen das Okay-Zeichen und ging zurück zu seinem Auto. Wenigstens würde er so nicht irgendwo steckenbleiben.
    Eine Stunde später setzte Joe ihn vor seiner Tür ab. Nachdem er seinem guten Samariter zum Abschied nachgewunken hatte, steckte Bill seinen Schlüssel ins Schloß und schob die Tür mit der Schulter auf. Sofort drang der Geruch von Kälte und Feuchtigkeit in seine Nase, und er verzog das Gesicht. »Verdammter Idiot«, murmelte er zu sich selbst.
    Die Haustür führte direkt ins Wohnzimmer. Die Einrichtungsgegenstände waren schäbig und nicht sehr hübsch œ gut genug für die Wochenenden, aber nicht gut genug, um gestohlen zu werden.
    Es deprimierte ihn immer ein bißchen, wenn er ankam, aber aus langer Erfahrung wußte er, daß das kleine Haus lebendig werden würde, sobald er das Licht und das Radio eingeschaltet und das Feuer angezündet hatte. Vor seiner Abreise legte er stets schon das Holz dafür bereit. Er erwischte sich beim Summen, als er in die Küche ging, die notdürftig mit einer alten, tiefen Spüle, einem bejahrten Elektrokocher, einem Tisch und Stühlen aus Kiefernholz ausgestattet war, die mittlerweile als Antiquitäten wahrscheinlich ein Vermögen wert waren. Sobald er sich häuslich eingerichtet hatte, würde er seine Gummistiefel herauskramen und mit großen Schritten durch den