Erst der Sex, dann das Vergnügen: Roman (Piper Taschenbuch) (German Edition)
Untersuchungsraum gebracht, den ich schon kannte und an dessen Stirnseite ein Ultraschallgerät ein wandhohes Bild beamte wie beim Public Viewing. Eine nicht mehr ganz junge Ärztin, auf deren Namensschild »Casper, Oberärztin Geburtshilfe« stand, kam schwungvoll herein, scherzte noch in der Tür »jetzt gucken wir mal, wie viele es sind!« und ließ mir aus einer großen pupsenden Tube einen Riesenklacks durchsichtiges Gel auf den Bauch platschen. Ich lächelte vorsichtig mit, dankbar für ihre resolut-unbekümmerte Art, und sah, dass an ihrer Halskette ein kleiner goldener Schnuller baumelte. Vielleicht war doch alles nicht so schlimm? Aber dann drehte die Ärztin plötzlich den Monitor ein Stück näher zu sich, und ihr aufmunterndes Lächeln wurde noch ein Stück aufmunternder: »Ach, und ich sag es noch! Frau Hanssen, es sind tatsächlich zwei! Haben das die Kollegen gestern noch gar nicht gesehen? Herzlichen Glückwunsch! Sie bekommen Zwillinge! Gratuliere!«
Konnte eigentlich noch irgendetwas nach Plan laufen? Warum wollte mein Schicksal denn jetzt sogar beim Kinderkriegen eine Extrawurst? Ich schlug die Hand vor den Mund und prustete los.
17
Mein hysterischer Lachanfall im Untersuchungszimmer der Charité ebbte sehr bald ab. Und Frau Doktor Casper, immer noch sehr fröhlich, fuhr weiter mit dem Ultraschallkopf auf meinem Bauch auf und ab und erklärte mir dann, was den Babys widerfahren konnte während einer Zwillingsschwangerschaft wie der meinen. Und dann war ich mir nicht mehr sicher, wie sehr man mir eigentlich noch gratulieren konnte.
»Ideal ist es, wenn bei Zwillingen jeder Embryo eine eigene Plazenta hat. Aber Ihre Babys teilen sich eine Plazenta – sie essen quasi gemeinsam von einem Kuchen, auf den sie via Nabelschnur zugreifen können. Dabei kann es passieren, dass sich einer viel mehr nimmt als der andere, ein Ungleichgewicht in der Versorgung entsteht − manche Zwillinge verschwinden einfach, während der große Bruder oder die große Schwester überlebt. Auch wenn Sie keine Blutungen mehr haben, müssen Sie liegen. Und jede Woche zur Kontrolle kommen. Was machen Sie beruflich? Sie sind selbstständig? Ach herrje. Da müssen Sie sich dringend etwas überlegen. Zwei Babys, aber nur eine Plazenta – das ist einfach noch einmal eine ganz andere Nummer.«
Aha, hatte ich mir gedacht und gegrübelt, wie ich mit dieser Neuigkeit verfahren sollte. Eine schreckliche Vorstellung: Ein Baby schafft es und muss dann später damit leben, dass es seinem Geschwister quasi den Kuchen weggefuttert hat – für ein heranwachsendes Kind wäre es sicher besser, wenn davon so wenige Leute wie möglich wüssten. »Sei still, man soll die Dinge nicht verschreien!«, hatte die alte Weberin im oberbayerischen Dorf meiner Eltern immer gesagt, wenn ich in ihrer Küche zu oft vorschnell und vorlaut Mutmaßungen anstellte, etwa über die zu erwartende Schneehöhe im kommenden Winter oder darüber, dass meine erste Liebe, der Kneitinger Erwin, mich sicher bald seinen Eltern vorstellen wollte. Und meistens hatte sie recht behalten, und ich hätte mal besser die Klappe halten sollen, dann hätte ich mich über die grünen Wiesen an Weihnachten nicht so geärgert. Und darüber, dass der Erwin mich nach acht Wochen heftigen Miteinandergehens immer noch heimlich durch den Kälberstall ins Haus geschleust hatte.
Jetzt, wieder zurück in meinem Krankenzimmer, dachte ich noch einmal über die alte Weberin und ihre Weisheiten nach und wie recht sie meistens gehabt hatte. Ich kann das Charlotte unmöglich erzählen und meinen Eltern und der übereifrigen Krimi auch nicht. Niemandem!, dachte ich. Und dann beschloss ich, die Sache mit den Zwillingen erst einmal für mich zu behalten.
Gut, dass meine Zimmergenossin nur Russisch sprach, da konnte ich meine neue Verschwiegenheit schon einmal üben. Obwohl ich genau wusste, dass ein fragender Blick von Felix genügt hätte, und ich hätte ihm alles bis ins allerkleinste Detail erzählt. Aber schlimmer noch als die möglichen Komplikationen, vor denen mich Frau Doktor Casper so gut gelaunt gewarnt hatte, war die Tatsache, dass ich gar keine Gelegenheit hatte, Felix doch davon zu erzählen – weil er einfach nicht wieder anrief, geschweige denn plötzlich vor mir stand, sosehr ich auch jeden Moment damit rechnete. Mit Zwillingen schwanger und im Krankenhaus landen war eins, aber mit Zwillingen schwanger im Krankenhaus zu landen und dabei eine Plazenta und einen Freund zu wenig
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