Erste Male
Klassenhirn …
Ich brauchte echt mal eine halbe Stunde ganz ohne Gedanken.
Mein Vater muss einen Peilsender in den Sohlen meiner Laufschuhe versteckt haben, ich war nämlich noch nicht mal einen Kilometer gerannt, als ich sein Rennrad schon surren hörte. Hätte ich mir denken können. Dad ist eigentlich abwechselnd an nur zwei Orten zu finden: vor dem Computer oder auf dem Rad. Und wenn er keine Alleinfahrten à la Lance Armstrong hinlegt, verfolgt er mich beim Laufen.
»Ein bisschen zügiger, Anti!«, schrie er. »Meinst du, Alexis Ford läuft so langsam?«
Alexis Ford geht auf die Eastland High School. Sie hat mich letztes Jahr bei den Jahrgangsmeisterschaften über 1600 m um vier Zehntelsekunden geschlagen. Mein Vater hat das Video von diesem Rennen öfter analysiert als das FBI den Amateurfilm von Kennedys Ermordung. Kein Witz. Meistens läuft das so:
»Genau da hast du das Rennen verloren«, sagt er.
»Dad, da war gerade der Startschuss gefallen. Wir waren noch keine fünfundzwanzig Meter gelaufen.«
Dad spult zurück und zeigt ein Standbild. »Guck dir das an«, sagt er und zeigt auf den Bildschirm. »Siehst du, wie du hier bis auf die dritte Bahn ausweichen musst, um dieses Mädchen von der Lacey zu überholen? Reine Energieverschwendung. Diese Energie hat dir beim Sprint auf der Zielgeraden gefehlt. Und deshalb hat Alexis Ford dich um vier Zehntel geschlagen.«
Vor ein paar Wochen hat Dad eine ganze Videokassette mit solchen entscheidenden Laufmomenten zusammengestellt, eine Videomontage, die ich gern »Anti-Darlings schmerzlichste Niederlagen, Teil eins« nenne. Ich soll sie mir angucken, daraus lernen und die Fehler nie wieder machen.
»Hier, da hast du’s«, sagt er. »Siehst du, wie deine Arme aus dem Rhythmus kommen? Wie du dich hier einklemmen lässt?«
Seine Vorträge sind völlig vergebens. In meinen Augen gibt es nur eine taugliche Laufstrategie, und an die halte ich mich: In Führung gehen und niemanden vorbeilassen.
Ich weiß, Dad freut sich bloß, dass es noch eine Sportlerin in der Familie gibt. Bethany hat in ihrem ganzen Lebenkeinen Tropfen Schweiß vergossen. Und er ist auch sehr froh, dass ich keins von diesen stämmigen Mädchen bin, die sich um die Bahn quälen und hoffen, die Meile in acht Minuten zu schaffen. Ich bin tatsächlich ganz gut. Das gleicht beinahe die versäumten Basketball- und Baseballspiele in der Little League aus, auf die er sich schon so gefreut hatte.
Für ihn stärkt das Lauftraining unsere Vater-Tochter-Beziehung, mich jedoch stört seine Einmischung. Weil es dann mit der angenehmen Gedankenleere beim Laufen vorbei ist.
Heute war es so schlimm, dass ich eine totale Psychophantasie entwickelte: Ich wünschte mir, er würde mich mit dem Fahrrad anfahren. Ich stellte mir vor, er könnte für den Bruchteil einer Sekunde die Kontrolle verlieren und mich so heftig am Bein erwischen, dass ich stürzte und auf den Asphalt knallte. Ich würde mich voller Schmerz und Wut zusammenrollen, Hände und Beine nichts als Blut, Hautfetzen und Rollsplitt. Dann würde ich schreien: »WAS SOLL DENN DER SCHEISS, SO DICHT NEBEN MIR ZU FAHREN! DAS IST ALLES DEINE SCHULD! WIESO LÄSST DU MICH NICHT EINFACH IN RUHE!« Vielleicht könnte ich mir einen Arm oder ein Bein brechen. Vielleicht wäre ich die ganze Saison verletzt, Dad hätte ein furchtbar schlechtes Gewissen und könnte mir nicht böse sein.
Dieser Gedanke begeisterte mich so sehr, dass ich nicht aufs Schicksal warten wollte. Ich würde den Zusammenstoß provozieren. Jawohl. Ich würde absichtlich stürzen, und ich konnte mich eigentlich darauf verlassen, dass er mich nicht komplett überrollen, schwer verletzen oder gar umbringen würde. Nein, nein, bloß ein Kratzer, eine Prellung, damit er mich endlich in Ruhe lässt . Mein Adrenalinspiegel stieg, und ich rannte schon beim Gedanken daran schneller. Worauf mein Vater rief: »Das sieht schon besser aus, Anti!« Doch anstatt meine Laune zu verbessern, wie er es bestimmt vorhatte, verschlechterte er sie durch sein Lob noch. Ich wollte jetzt unbedingt, dass er mich anfuhr und meine Läuferinnenkarriere ein für alle Mal beendete. Ich wusste, vor uns hatten Baumwurzeln den Asphalt aufgewölbt, über die ich glaubhaft stolpern (»So ist es gut, Anti! Weiter so, du fliegst!«), vor seine Füße fallen und mich von ihm überfahren lassen konnte. Nie wieder müsste ich laufen oder mir was über Alexis Ford, Armrhythmus und schmerzlichste Niederlagen anhören. Ich wusste
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