Erwachende Leidenschaft
liebsten hätte er das Ding abgerissen, seine Füße auf das Geländer gelegt und seine Augen zugemacht. Alesandra würde allerdings vermutlich eine Herzattacke bekommen, wenn er sich so daneben benahm. Natürlich wollte er sie nicht in Verlegenheit bringen, aber Himmel, er haßte dieses ganze Getue der höheren Gesellschaft wirklich.
Außerdem verabscheute er es, in der Loge des Prinzregenten zu sitzen. Wenn Nathan es herausfand, würde er eine Woche laut schreien. Sein Partner haßte ihren Regenten noch viel mehr und zu Recht, denn es war schließlich seine Frau gewesen, die der ach so noble Prinz um ihre Erbschaft gebracht hatte.
Diese gottverdammte Oper, der er lauschen mußte, verbesserte seine grantige Laune auch nicht. Also schloß er wirklich die Augen und versuchte, das Gekreische, das von der Bühne heraufdrang, zu verdrängen.
Alesandra bemerkte erst, als die Vorstellung zu Ende war, daß Colin eingeschlafen war. Sie wandte sich zu ihm um und wollte ihn gerade fragen, ob ihm die Musik genauso gefallen hatte wie ihr, als er zu schnarchen begann. Fast hätte sie laut losgelacht, und es brauchte ihre ganze Beherrschung, um ihre Miene zu beherrschen. Die Oper war wirklich gräßlich gewesen, und sie wünschte, auch sie hätte während dieser Qual schlafen können. Das würde sie ihm gegenüber aber niemals zugeben. Warum sollte er die Chance bekommen, zu triumphieren?
Sie stieß ihn kräftig mit dem Ellenbogen in die Seite, und Colin wachte schlagartig auf.
»Du bist wirklich unmöglich«, flüsterte sie.
Er bedachte sie mit einem verschlafenen Grinsen. »Und das mit Vergnügen.«
Es war offenbar nicht möglich, ihn zu beleidigen, und so gab sie den Versuch auf. Sie erhob sich, nahm ihren Umhang und machte sich daran, die Loge zu verlassen. Colin folgte ihr.
Unten im Foyer drängelten sich die Leute. Die meisten warteten darauf, Alesandra näher betrachten zu können. Plötzlich fand sie sich von Gentlemen umringt, die darum baten, vorgestellt zu werden. Sie verlor Colin in dem Gedränge, und als sie ihn endlich wieder ausmachte, sah sie, daß er von Damen umzingelt war. Eine herausgeputzte Rothaarige mit einem Ausschnitt bis zu den Knien hing an seinem Arm. Sie fuhr sich ständig mit der Zungenspitze über die Lippen und erinnerte Alesandra an eine hungrige Straßenkatze, die einen Topf Sahne entdeckt hat. Als wäre Colin ein leckeres Häppchen!
Alesandra versuchte sich darauf zu konzentrieren, was der Gentleman, der sich als Earl Soundso vorstellte, zu ihr sagte, aber ihr Blick flog immer wieder zu Colin hinüber. Er schien sehr entzückt über die Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte, und sie mußte feststellen, daß es sie ärgerte.
Dieser unvernünftige Anflug von Eifersucht überkam sie vollkommen überraschend. Und Himmel, es war ein scheußliches Gefühl. Sie konnte die Hand der Frau auf seinem Arm einfach nicht ertragen.
Sie ärgerte sich mehr über sich selbst als über Colin. Seit sie in England angekommen war, hatte sie sich bemüht, sich stets so zu verhalten, wie es ihrer Ansicht nach eine Prinzessin zu tun hatte. Die Worte der Mutter Oberin, Würde und Haltung, klangen ihr immer wieder in den Ohren. Alesandra erinnerte sich nur allzu gut an die Warnung der Nonne, sich niemals von spontanen Eingebungen treiben zu lassen. Und sie hatte ihr natürlich auch mindestens zehn Beispiele für die mißlichen Folgen ihrer übereilten Handlungen gegeben.
Alesandra seufzte laut. Wenn sie zu Colin hinübergehen und die Hand der Frau von seinem Arm nehmen würde, könnte man das wahrscheinlich eine übereilte Handlung nennen. Und sie wußte nur zu gut, daß sie es spätestens dann bereuen würde, wenn sie dadurch ins Gerede käme.
Sie fühlte sich plötzlich, als würden die Foyerwände näherrücken. Niemand schien es eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Immer mehr Menschen drängten sich in der kleinen Halle, um zu sehen und gesehen zu werden.
Sie brauchte dringend frische Luft. Sie entschuldigte sich bei den Gentlemen, die immer noch auf ein Wort von ihr warteten, und bat sie, ein Kärtchen zu schicken. Dann bahnte sie sich langsam ihren Weg durch die Trauben von Menschen, die die Eingangstüren verstopften.
Sie kümmerte sich nicht darum, ob Colin ihr folgte oder nicht. Draußen hielt sie auf der obersten Stufe an, atmete die nicht ganz so frische Stadtluft ein und zog dann ihren Umhang über die Schultern. Colins Kutsche befand sich direkt vor der Treppe. Raymond sah sie sofort und sprang
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